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Das 6. Arbeitsseminar des deutsch-französischen Projekts „ Kriegs- und Heimatfront zwischen Nationalgeschichte und europäischer Erinnerung: die Höhe 108 in Berry-au-Bac“ veranstaltete am 23. April an der Université de Montréal ein internationales Kolloquium, das versuchte, die europäischen Kriegserlebnisse und –wahrnehmungen mit den kanadischen zu vergleichen. Das Projekt, welches seit Herbst 2013 ein Schlachtfeld aus dem Ersten Weltkrieges in Berry-au-Bac (Nordost Frankreich) erforscht, strebt dessen historische Darstellung in einer binationalen Perspektive über den jeweiligen nationalen Rahmen hinaus, an. Die Veranstaltung, die dank der Zusammenarbeit zwischen den Professoren Carl Bouchard (Université de Montréal), Michel Mallet (Université de Moncton) und Fabien Théofilakis (Centre canadien d’études allemandes et européennes, Université de Montréal, und wissenschaftlicher Leiter des Projekts) zustande kam, erhielt die Unterstützung von dem Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der Direction de la mémoire, du patrimoine et des archives sowie auch des deutsch-französischen Jugendwerks und hatte zwölf Historiker – Berufsforscher sowie Nachwuchswissenschaftler aus Deutschland, Frankreich und dem französischsprachigen Kanada – eingeladen. Thema des Kolloquiums waren die Spuren, die der Große Krieg als Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts 100 Jahre später, in der Landschaft, in den Archiven und in den Erinnerungskulturen, hinterlassen hatte[1].

Der Erste Weltkrieg aus einer lokalen Perspektive: „La Grande Guerre sur site(s)“

Das Kolloquium wurde mit dem Thema der Erbschaft und der Erinnerung des Ersten Weltkrieges auf einer lokalen Ebene eröffnet. Die Vorträge haben die Frage der Erbschaft im Echo behandelt: Michel Mallet präsentierte die Schlacht von Vimy unter der Fragestellung, wie diese Schlacht später als Gründungsmythos der kanadischen Nation benutzt wurde; als das französische Pendant stellte Stefan Schubert (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) die Höhe 108 bei Berry-au-Bac vor, eine Frontlinie zwischen den französischen und deutschen Armeen zwischen August 1914 und November 1918 an der Aisne-Front. Er berücksichtigte dabei die „transformative Kraft“ des Ersten Krieges in der Landschaft sowie in der Technik.

Die Schlacht von Vimy im April 1917 war in der Tat der erste große Sieg der kanadischen Armee und wurde als solche offiziell für die Kriegspropaganda zelebriert, um die nationale Einheit zu verstärken. Jedoch betonte M. Mallet, der als Touristenführer in Vimy gearbeitet hatte, dass nur wenige Quebecer heutzutage die identitätsstiftende Funktion der Schlacht kennen und die Gedenkstätte als solche wahrnehmen. Diese Diskrepanz zeigt, wie aktuell die Erbschaft des Ersten Weltkrieges in unserem postmodernen Staat ist. Dies wurde im Vortrag über das Dorf von Berry-au-Bac weiter reflektiert: Inwieweit beeinflusst der Erste Weltkrieg die Landschaft von Berry-au-Bac und seine Erinnerungskultur noch heute? Anhand der Spuren der ehemaligen Schützengraben und des Minenkrieges hat S. Schubert analysiert, wie sie eine konstante Erinnerung an die Ereignisse 100 Jahre zuvor darstellen. Aber diesmal nicht durch eine Institutionalisierung der Erinnerung: Auf der Höhe 108 sind die Spuren des Krieges bis heute zu sehen, die aber wegen Munitionsreste jeden freien Zugang verbietet. Im Gegensatz zu Vimy handelt es sich bei Berry-au-Bac um einen rein lokalen Erinnerungsort, der aber in jedem Einwohner des nach dem Krieg wiederaufgebauten Dorfes, sehr lebendig ist. Stark kristallisierte sich in diesem ersten Teil heraus, wie unterschiedlich die Perspektive der Kanadier auf den Ersten Weltkrieg im Vergleich zu den Westerneuropäern ist, da die Schlachten nicht auf ihrem Territorium stattgefunden hatten und eine tiefe politische Bedeutung im Nation Buildung Kanadas gewonnen haben.

1914-1918 in den Archiven: neue Korpora, neue Blickpunkte

Das Kolloquium befasste sich dann mit dem Thema, inwiefern der 100. Jahrestag auch dazu geführt hat, neue Quellen zu entdecken oder vorhandene neu zu interpretieren und dadurch eine erneute Geschichtsschreibung des Krieges zu ermöglichen. Dafür hatte Pascale Landry (Université de Moncton) einen vergleichenden Ansatz gewählt, was ihr erlaubte, übliche Quellen - von den Soldaten verfassten Briefe – mit einem anderen Blickwinkel zu lesen: zwei Soldaten aus Ostfrankreich, die zwei verschiedene Auffassungen des Krieges hatten. In den Briefen, so Pascale Landry, gewannen wir einen Überblick über die Gefühlslage der Soldaten während des Konfliktes. Sie kam zu der Erkenntnis, dass verschiedene Soldaten in ihren Briefen anders schrieben, als sie wirklich dachten.

Die vergleichende Perspektive als methodologischer Ansatz wurde mit dem gemeinsamen Beitrag von Camille Laurent (Université Paris I — Panthéon Sorbonne) und David Pfeffer (Albert-Ludwigs — Freiburg Universität) weiter verfolgt und vertieft, indem sie die Quellen und die innovative Methodologie darstellten, mit denen die Teilnehmer des deutsch-französischen Forschungsprojektes „Die Höhe 108 im Ersten Weltkrieg“ arbeiten. Die über 1.000 Dokumente, die in etwa zwanzig Archivzentren in Frankreich und Deutschland gesammelt worden waren, enthüllen in der Tat eine andere historiographische Landschaft des Großen Krieges. Dabei wurde der große Unterschied im Korpus zwischen den beiden Ländern deutlich, da in Deutschland sehr viel Material über die preußische Armee durch die Bombardierungen während des Zweiten Weltkrieges zerstört worden ist. Dieser Unterschied führte zu einer neuen Bestimmung der bearbeiteten Themen und machte die Teilnehmer auf nationale Besonderheiten aufmerksam, die sonst unauffällig, d.h. unsichtbar, geblieben wären. So wurde Camille Laurents Aufmerksamkeit auf zwei Archivmaterialen gelenkt. Zuerst auf die Übersetzung eines deutschen Gedichtes „Die Höhe 108“, das sich in den Heftchen eines französischen Generals befindet. Ein solches Dokument ist deshalb von großer Wichtigkeit, weil es über die Gefühlslage und Psyche der Soldaten berichten kann, aber auch darüber, wie sich Deutschland und Frankreich gegenüberstanden und sich als Feind betrachteten. Das zweite wichtige Dokument war ein Fotoalbum eines französischen Soldaten des 24. Infanterie-Regiments, der bei Berry-au-Bac eingesetzt war. Wie können solche Fotoalben als Quelle für die Geschichte des Ersten Weltkrieges ein Jahrhundert später verwendet werden? Inwiefern sind solche Ego-Dokumente repräsentativ? Wie kann der Historiker die Subjektivität der damaligen Akteure berücksichtigen? In seinem Beitrag hat D. Pfeffer auch derartige Fragen beleuchtet. Die Quellen, die er bearbeitet hat, sind Tages- und Marschbefehle, militärische Berichte, aber auch persönliche Fotos und Briefe. Auf der Suche nach Informationen stieß er auf das Tagebuch von Wilhelm Schwalbe, der über das Kriegsgeschehen im Sektor von Berry-au-Bac berichtete. In den Briefen an seine Verlobte Erna erläuterte er seine emotionale Stimmungslage. Auch wenn der Krieg hart sei, so müsse man dieses Gefühl überwinden und für sein Land einstehen. Diskutiert wurde dann, inwiefern paradoxerweise eine „histoire sensible“ des Ersten Weltkrieges erst nach vier Generationen möglich ist, da sie keinen direkten Bezug auf das Geschehen mehr pflegen.

Nicht immer braucht der Historiker neue Korpora, um eine erneute Geschichtsschreibung anzubieten, wie Pedro Pereira Barrosos (Université de Paris I — Panthéon Sorbonne) Beitrag zur Aisnefront anhand der deutschen Besatzungszeitung in Frankreich, La Gazette des Ardennes, erläuterte. Durch die Herstellungsbedingungen dieser Zeitschrift, ihre Ziele und deren Hindernisse wurde das Paradoxon verdeutlicht: Offiziell zielte diese deutsche Zeitschrift darauf ab, die besiegte Zivilbevölkerung zu beruhigen, allerdings wurde sie im Endeffekt als eine Art Papierwaffe konzipiert, deren Ziel die Demobilmachung der Besetzten durch den neuen Informationskrieg war.

Carl Bouchard hat diese Frage der reflektierten Wahrnehmung und deren Interpretation weiter behandelt, indem er über die Kommerzialisierung berühmter Figuren des Ersten Weltkrieges im Archiv für die Warenzeichen beim Patentamt vorgetragen hat. Durch die bereits im Krieg entwickelte Werbung analysierte der Historiker, wie berühmte Militärcharakter (General Joffre, Präsident Wilson) sowie stereotype Bilder („Anti-Boche Besen“) benutzt wurden, um die Produkte zu vermarkten. In diesem Übergang von Militär- zu Heimatfront entwickelte sich eine imaginäre Welt, die aber die Wege der Moderne verwendete und die Symposiumsteilnehmer zu der aktuellen Frage führte, wie Krieg zum verstärkten Verkauf veranlassen kann. Interessant ist dies, da auch nach dem Krieges weiterhin Produkte existierten, die mit diesem verbunden waren.

Diese Frage der bildlichen Darstellung im Krieg sowie des Krieges in der Massenmobilmachung war auch das Thema von Alexandre Dubés (Université de Montréal) Vortrag über den Karikaturist Raemaerker, in welchem er den parallelen Aufbau der Wahrnehmung Deutschlands (negativ) und der Alliierten (positiv) analysierte. Dadurch konnte er eine transalliierte Perspektive über den Krieg, die die Nationalitäten transzendierte, bahnen. Als Ergänzung war die Präsentation von Mathieu Thomas (Université de Montréal) von Postern über den Ersten Weltkrieg, die an der Bibliothek für Geisteswissenschaften (Bibliothèque des Lettres et Sciences Humaines) einzusehen sind, besonders treffend, da sie thematisch sowie methodologisch die Überlegungen darüber zusammenfasste, ob 1914-1918 auch einen ikonographischen Bruch in der Geschichte Europas gebildet hatte.

„Der Ersten Weltkrieg in den Ausstellungen: Wie den Krieg erzählen, wie den Krieg tradieren?“

Der letzte Teil des Kolloquiums ging auf die Frage der Museographie und der Narrativherstellung in Bezug auf den Ersten Weltkrieges ein: Welche Formen müssen die Ausstellungen diesbezüglich haben, um ein Publikum zu interessieren, das keine Erfahrung mit dem Thema hat? Als Ausstellungskuratorin stellte Mélanie Morin-Pelletier (Musée Canadien de la Guerre/Canadian War Museum, Ottawa) die Bemühungen des kanadischen Kriegsmuseums in Ottawa vor. Das Museum, dessen Besucher meist über einen Erwartungshorizont verfügen (Grundschüler, Sekundarschüler, Studenten, Forscher, Lehrer...), hat die Aufgabe, an die kanadische Kriegsanstrengung auf dem europäischen Boden zu erinnern. Die letzte vorläufige Ausstellung „Se battre en Flandre. Gaz. Boue. Mémoire“ versuchte folglich zu zeigen, inwiefern die Entstehung einer (eben mythologischen) kanadischen Nation in Verbindung mit dem Ersten Weltkrieg steht sowie die dunkleren Seiten des Krieges verdeutlicht. In ihrer Präsentation stellten Julia Knechtle (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) und Amaury Bernard (Université Paris Ouest - Nanterre) vor, wie die Ausstellung des Projektes ,,Die Hohe 108 in Berry-au-Bac“ die „Wahrnehmung des Feindes“ in einem vergleichenden französisch-deutschen Blickwinkel behandelt und dargestellt hatte. Anhand einer umfangreichen Archivarbeit, während der die Beziehungen zum Feind und das Verhalten in den Gräben untersucht wurden, haben die zwei Vortragenden erklärt, warum auf der deutschen Seite kein sprachliches Pendant zu den französischen Schimpfworten für die Deutschen („boches“, „Fritz“) existierte. Die Wahrnehmung des Feindes sei dabei stark mit der Selbstwahrnehmung verbunden, so die These. Diese Reflexion über das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Erfahrung im Krieg betrifft auch die Anstrengungen der französischsprachigen kanadischen Soldaten und die Art und Weise, wie sie von anglophonen Landsleuten während des Krieges wahrgenommen wurden. Auf der Grundlage ihrer aktuellen Forschungen vertrat Céleste Lalime (Université de Montréal) die These, dass die französischsprachigen Soldaten, im Gegensatz zu bestehenden Gerüchten, einen guten Ruf auf dem Schlachtfeld hatten. Nur diejenigen, die in Kanada blieben, waren Verleumdungsopfer, was wie ein Echo auf die Wahrnehmung der Vimy Gedenkstätte fiel.

Mit Jocelyne Chabot (Université de Moncton) erweiterte sich das Analysegebiet um die Kriegstatsachen an einer anderen Ostfront, und zwar auf dem Balkan mit einem interdisziplinären Ansatz. Durch den französischen Berichterstatter Henry Barby, der die Grausamkeiten nicht erlebte, aber die Konsequenzen gesehen hatte, beschäftigte sich der Vortrag mit dem Völkermord an den Armeniern und der korrelativen Frage, wie man die Extremgewalt gegenüber einer Weltöffentlichkeit bezeugen kann.

Die zahlreichen und gezielten Fragen zeigten, wie stark das Jubiläum des Ersten Weltkrieges eine Forschungsdynamik verlassen hat. Anders gesagt: Neue Quellen erzeugen ein neues Wissen, das gleichzeitig zu neuen Analysen und Themavertiefungen führt. Das deutsch-französische Projekt über die Höhe 108 im Dialog mit Quebecer Forschungsarbeit über den Großen Krieg verdeutlichte, warum uns der Ersten Weltkrieg nach 100 Jahren immer noch etwas über unsere Zeit zu berichten hat.

Die deutsch-französische Ausstellung „Côte à côte / ‚Viel Lärm um Nichts’“

Im Zusammenhang mit diesem internationalen Kolloquium wurde eine sehr interessante Ausstellung über den Kriegsalltag im Kampf und Begegnungsraum auf beiden Seiten der Front während des Ersten Weltkrieges im Atrium der Bibliothèque des lettres et des sciences humaines der Université de Montréal präsentiert. Jedes der dreizehn bilingualen Banner mit informativen Texten und kommentierten Bildern, die alle ‚,die Höhe 108’’ und „die Kriegserfahrung bei Berry-au-Bac’’ thematisierten, wurde von zwei Studenten – einem Franzosen und einem Deutschen – in Zusammenarbeit verfasst, was die doppelte Perspektive des Krieges über den nationalen Rahmen hinaus widerspiegelte. Am Ende des Kolloquiums über den Ersten Weltkrieg wurde Führungen entweder auf Deutsch oder auf Französisch von den TeilnehmerInnen des Projektes angeboten. Diese Sonderausstellung war in vier Unterpunkte gegliedert: „Wer“ und „Wo“, „Kriegsführungen in Berry-au-Bac“, ‚,Besatzung und Koexistenz in Berry-au-Bac“ und letztlich ,,den Krieg erleben, den Krieg erzählen“. Im Echo auf das Symposium war einen der roten Fäden der Ausstellung aufzuzeigen, wie die Modernität des Ersten Krieges mit dem Traditionellen zu verbinden ist.

Obwohl diese Ausstellung räumlich klein war, bleibt der Inhalt reich und sehr gut dokumentiert. Die Möglichkeit, eine Diskussion mit den Forschern selbst zu führen, war auch sehr lehrreich und angenehm. In einem akademischen Kontext ist es faszinierend zu sehen, was anderen Universitäten in verschiedenen Ländern und hier an der Université de Montréal in Kanada gemeinsam oder unterschiedlich machen. Es ist aber noch relevanter, unsere Untersuchungen gemeinsam zu erarbeiten, um die Historiographie dieser Urkatastrophe besser zu verstehen. Diese Ausstellung war ein gutes und konkretes Beispiel dieser Zusammenarbeit zum Gedenken an die 100. Jahresfeier des Beginns des Ersten Weltkrieges.

Das Projekt konnte in diesem Rahmen nicht nur einem großen, internationalen Publikum vorgestellt werden, sondern den Teilnehmern wurde auch die Möglichkeit geboten, sich mit kritischen Fragen zum Thema auseinandersetzen und neue Anregungen für die weitere Arbeit zu gewinnen. Die weitere Planung des Projekts sieht im Oktober 2015 eine zweite Ausstellung in Berry-au-Bac vor, die die bereits vorhandenen Ausstellungstafeln ergänzen soll, sowie einen Sammelband (in französischer sowie in deutscher Sprache) zu veröffentlichen. Er sollte einige der Beiträge vom Montreal Symposium publizieren.