Soziale Marktwirtschaft, Modell Deutschland und PoldermodellWirtschaftspolitische Leitbilder als Merkmale nationaler Identität und Europäisierung[Record]

  • Hanco Jürgens

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Seit der Kreditkrise bewegen sich die Debatten über die Zukunft der niederländischen und deutschen „sozialen Marktwirtschaft“ in eine neue Richtung. Nicht nur haben die politischen Parteien alte ideologische Stellungnahmen aufgemöbelt, auch der Blickwinkel der Debatten hat sich verschoben. Die Idee, dass der alte, hinfällige Rheinländische Patient krank sei und nur durch Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und Steuerreform wieder gesunden könne, hat die politischen Debatten lange dominiert. Seit den achtziger Jahren, vor allem aber nach dem Fall der Mauer, war das angelsächsische Modell des Kapitalismus ein Vorbild für die niederländische und die deutsche Wirtschaft. Ironischerweise wehte die Bankenkrise aus den Vereinigten Staaten herüber und damit ist die transatlantische Orientierung abhanden gekommen. Alte Orientierungen, seien es die soziale Marktwirtschaft, das Modell Deutschland, das Poldermodell, angelsächsischer oder Rheinischer Kapitalismus, werden jetzt neu formuliert. Da das Schreckgespenst des grenzenlosen Turbokapitalismus mit der Kreditkrise ein Gesicht erhalten hat und die Politik vor großen Herausforderungen steht, ist zu erwarten, dass es zu einer Re-Ideologisierung kommen wird, zu einem neuen Links-Rechts-Schema, das auch die europäische Union nicht unberührt lassen kann. Die Kreditkrise war aber nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine wirtschaftswissenschaftliche Krise: Es hat kaum Experten gegeben, die diese rasche Entwicklung vorausgesagt haben. Politiker sind mehr als gefordert, nicht nur weil stets sofortige Lösungen geboten waren und sind, sondern auch, weil ständig neue Probleme auftauchen. Es stellen sich Fragen nach einer Neuorientierung, vielleicht sogar einer neuen Ideologie, zumindest aber nach einem von der Politik angeregten Wertewandel im Wirtschaftsleben. Die Antworten auf diese Fragen müssen sich noch herauskristallisieren. Die Kreditkrise könnte sich als Rettung der Europäischen Union erweisen. Bei den Bürgern Europas, nicht zuletzt den niederländischen, hat in den neunziger Jahren die Idee Fuß gefasst, dass Europäisierung mit Privatisierung und Deregulierung gleichzusetzen sei. Weil die Europäische Union die Sozialpolitik überwiegend den Mitgliedstaaten überlassen hat, wird die EU tatsächlich als ein neoliberales Projekt betrachtet. Globalisierung, Privatisierung und Europäisierung gelten als Bedrohungen der erworbenen sozialwirtschaftlichen Rechte. Die zahlreicher werdenden Kritiker des Neoliberalismus wurden auf diese Weise einfach auch Kritiker der Vertiefung und Erweiterung der EU: in Deutschland die Wählerschaft der Linken, in den Niederlanden die der SP. Nach dem negativen Ausgang des französischen und des niederländischen Referendums über den europäischen Verfassungsvertrag im Jahr 2005 engagierten sich die Politiker in Europa weit weniger für mehr Konvergenz in der EU. Das Zustandekommen und die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags wurde überwiegend als eine technisch-bürokratische Angelegenheit aufgefasst, ohne dass die europäische Öffentlichkeit genau wusste, was mit dem Vertrag tatsächlich ratifiziert worden ist. Seit der Kreditkrise aber ist Europa wieder ins Zentrum der politischen Debatte gerückt. Die Bürger realisieren mehr denn je, dass die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ohne die EU kaum noch umzusetzen ist. Gerade Letzteres kann für das schwächere Engagement für die „Idee Europa“ große Folgen haben. Die Kreditkrise hat nicht nur neue Ansichten zu den Gegenwartsproblemen generiert, sondern auch neue Perspektiven auf die Zeitgeschichte aufgezeigt. Nicht die Glaubwürdigkeit, sondern die Deutungshoheit der wirtschaftspolitischen Leitbilder, wie soziale Marktwirtschaft und Poldermodell, ist gewachsen. Besonders nach dem Fall der Mauer fungierten sie als Muster und Modelle für Politiker mit ihrer eigenen Agenda. Dabei wurde die niederländische und deutsche Sozialpolitik mehrfach als Identitätsfrage politisiert. Obwohl ein gesunder Sozialstaat oft als eine nationale Angelegenheit dargestellt wird, gibt es weitreichende transnationale Querverbindungen. Diese finden sich beispielsweise in den Niederlanden mit der Einführung des Kurzarbeitergeldes 2009 nach deutschem Beispiel und in Deutschland mit der Rettung der Commerzbank 2008, zwei Monate, nachdem der niederländische Staat den Allfinanzkonzern ING auf ähnliche Weise gerettet hatte. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die transnationalen Wechselbeziehungen, die zwischen Experten, Politikern und Öffentlichkeit bestehen, darauf, wie sich die niederländische und die deutsche Sozialpolitik zur nationalen und europäischen …

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