Staatsprojekt EuropaZur Rekonfiguration politischer Herrschaft[Record]

  • Jens Wissel

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Zwar gibt es in der Europaforschung eine große Anzahl von Untersuchungen zu den unterschiedlichen Aspekten des weitverzweigten Systems der EU, eine staatstheoretische Einordung der Prozesse fällt aber noch schwer. Diese Schwierigkeiten drücken sich auch in der Suche nach adäquaten Begriffen aus. Es wird von einer „europäischen Staatlichkeit“ gesprochen, von einem „post modern state,“ einem „quasi state,“ oder einem „international state,“ um nur einige Versuche zu nennen. „Der Nachteil vieler dieser Charakterisierungen liegt in der Statik einer Momentaufnahme; sie ermöglicht nicht, die Evolution der EU in einer dynamischen Perspektive über die Zeit zu erfassen.“ Bezüglich des Nationalstaates wird von einem „Zerfaserungs-“ und „Anlagerungsprozess“ neuer Institutionen und Akteure an den Staat ausgegangen oder umgekehrt von einer Einbindung dieses Staates in transnationale „Politikregime.“ Um der Gefahr zu entgehen, die Perspektive auf die neue Konstellation mit alten Begriffen zu verstellen, wird die EU aufgrund ihrer „multi-level governance“-Struktur auch als Organisation „sui generis“ zu fassen versucht. Der multi-level governance-Ansatz hat zweifellos das Verdienst, die neue räumliche Ausdifferenzierung politischer Prozesse in Europa erkannt und beschrieben zu haben. Problematisch ist allerdings der „Problemlösungsbias“ und die hieraus folgende Ausblendung politischer Herrschaft. In der Beschreibung einer neuen Form der Steuerung, in der die Akteure in einem „nicht-hierarchischen Verhältnis“ zueinander stehen, wird übersehen, dass die Rekonfiguration der alten Hierarchien keineswegs heißt, dass Hierarchien verschwinden. Ich gehe davon aus, dass ein Rückgriff auf die Debatten um die „Internationalisierung des Staates,“ dazu beitragen kann, die Rekonfiguration Europas als ein neues Staatsprojekt zu begreifen, in dessen Rahmen sich neue Hierarchien zwischen den unterschiedlichen Staatsapparaten und Institutionen auf europäischer und nationaler Ebene in einer neuen skalaren Struktur herausbilden. Eine solche Perspektive ermöglicht es, sowohl die Dynamik des Integrationsprozesses, als auch die Veränderung von politischer Herrschaft in den Blick zu nehmen. Bei der Entfaltung werde ich mich zentral auf die Arbeiten von Nicos Poulantzas beziehen. In einem ersten Schritt wird sein Ansatz kurz dargestellt, um dann zu der Frage zu kommen, inwiefern seine theoretischen Grundlegungen bei der Analyse der aktuellen Prozesse in der EU weiterführen können. Meine These ist, dass sich innerhalb der EU ein Ensemble aus nationalen Staatsapparaten, europäischen quasi- Staatsapparaten und internationalen Organisationen herausgebildet hat, dessen organisatorische Kohärenz und Anordnung weniger durch seine – selbst noch umkämpfte – formale Struktur sichergestellt werden kann, als vielmehr das Ergebnis eines hegemonialen Projektes ist. Um der These eines entstehenden europäischen Staatsapparateensembles nachzugehen, werde ich die Europäisierung von Migrationskontrollpolitiken im Rahmen der EU analysieren, weil die Kontrolle von Bevölkerung und Territorium bisher zu den Kernbereichen nationaler Staatlichkeit gehörte. Der Rückgriff auf Poulantzas’ Staatstheorie zur theoretischen Einordnung der veränderten Konstellation bietet sich aus verschiedenen Gründen an. Zum einen verstand es Poulantzas in seiner Staatstheorie die Vermittlung von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und staatlichen Veränderungen in den Blick zu nehmen. Begreift man den Staat als „materielle Verdichtung eines gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses,“ vermeidet man den heute weitverbreiteten Funktionalismus, beziehungsweise Ökonomismus, der die politischen Prozesse in Europa als „spill over“ des gemeinsamen europäischen Marktes versteht. Gleichzeitig verfällt man nicht in eine politizistische Erkärung, in der gesellschaftliche Prozesse weitgehend ausgeblendet bleiben. Zum anderen hat Poulantzas schon früh ein Konzept zur Analyse von Internationalisierungsprozessen entwickelt und es verstanden, dieses mit seinem Begriff der „inneren Bourgeoisie“ staatstheoretisch zu fundieren. Im Unterschied zu vorhergehenden Phasen des Kapitalismus analysierte Poulantzas in den 1970er Jahren das Verhältnis zwischen den Staaten des kapitalistischen Zentrums nicht als ein äußerliches. Die Hegemonie der USA war demnach keine, die Europa von außen aufgezwungen wurde oder die aus einem bestimmten Interessenskalkül von „den Europäern“ akzeptiert wurde, vielmehr zeichnete sich die neue Situation dadurch aus, dass das US-amerikanische Kapital Europa durchdrang und die unterschiedlichen nationalen Machtböcke von innen heraus veränderte. Die europäischen Metropolen blieben dabei selbst …

Appendices