Corps de l’article

[...] Östlich davon der blutende Grenzfluss

die Oder – Völker trennend.

In der Mitte die scharf bewachte

Trennlinie.

Dichter, polnische, deutsche,

zogen am Fluss entlang,

davon träumend, Fährmann zu sein –

Lange Zeit ein vergeblicher Traum.

Ich wurde Fährmann,

übertrug kostbare Fracht –

polnische Dichtung –

ins Deutsche,

in die Buchstabenwelt.

Sperrig blieb für die Menschen

der Fluss lange Zeit.

Lange neidete ich Vögeln und Fischen

das lockere Hin und Her.

Nun aber fahre ich selber

locker hinüber, herüber –

Fährmann grenzenlos.

Henryk Bereska, Auf dem Poetdampfer zwischen Frankfurt und Eisenhüttenstadt, September 1996

Mit diesen Worten beschreibt Henryk Bereska – Dichter und Übersetzer polnischer Literatur in Deutschland – den Fluss, der lange Zeit für Menschen gesperrt war und den nur Vögel und Fische überqueren durften. Ursprünglich gab es nur eine Stadt am Fluss, der als Transportweg den Handel und die Entwicklung begünstigte. Im Jahre 1945 wurde der Fluss, der bis dahin zwei Stadtufer miteinander verband, zur hermetischen Grenze zwischen zwei Staaten. Die Stadt am Fluss wurde geteilt; der eine Teil setzte die Geschichte fort, in dem anderen fing 1945 eine neue Geschichtstradition an, ohne sich auf die gemeinsame Vergangenheit zu beziehen. Die Stadt als Raum musste neu definiert werden, man versuchte neue Identifikationsmuster zu schaffen. Ein polnischer Journalist der parteilichen Tageszeitung Trybuna Ludu schrieb 1947: „Zwei Jahre nach dem Ende des Krieges fuhr ich auf einem Schiff von Wrocław nach Szczecin über die Oder. Ich erinnere mich nicht an die ausgestorbenen Städte auf beiden Seiten des Flusses, nicht an wilde Felder, die das Gras überwuchs. [...] Im Gedächtnis sind Massen von Menschen an beiden Ufern haften geblieben, die auf ein paar geschmückte Boote schauten. [...] Es waren schweigende Massen, Menschen auf beiden Flussufern, die einander in Stille, ungläubig und misstrauisch ansahen. Das war ein Fluss, der teilte und nicht verband.“[1]

An den europäischen Grenzen gibt es mehr als 60 solcher Doppelstädte, die unmittelbar benachbart sind und zwei verschiedenen Staaten angehören. Infolge der Grenzziehung an Oder und Neiße wurden ca. 50 Dorfgemeinden und sieben Städte geteilt, wovon drei als Doppelstädte fungieren; sie wurden Doppelstädte wider Willen. Geteilte Städte sind „Wunden der Geschichte, die großen Schmerzen im Bewusstsein der Welt.“[2]

Abb. 1

Geteilte Städte an der Oder/Neiße-Grenze

Geteilte Städte an der Oder/Neiße-Grenze

-> Voir la liste des tableaux

Die Doppelstädte sind zumeist mittelgroß und liegen an der Peripherie des Landes, weit vom wirtschaftlichen und politischen Zentrum entfernt. Die Zusammenarbeit beider Stadthälften ergibt sich demnach aus dem Bedürfnis, dem Charakter der Randlage zu entgehen. Das Grenzüberschreitende, das Binationale charakterisiert sie und hierdurch versuchen sie, sich von den anderen durchschnittlichen, „national homogenen“ Mittelstädten zu unterscheiden und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wie z.B. Görlitz und Zgorzelec, als sie sich gemeinsam um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt bewarben.

Die Osterweiterung der Europäischen Union am 1. Mai 2004 war die Stunde der Doppelstädte, schreibt Helga Schultz. Von Frankfurt/Słubice an der Oder und Görlitz/Zgorzelec an der Neiße bis Gorizia/Nova Gorica am italienisch-slowenischen Isonzo eilten hochrangige Politiker in die krisengeschüttelten Grenzstädte, um die Rhetorik der überwundenen Grenzen zu pflegen. Dieses politische Ereignis war begleitet von Volksfesten, die für „eine hochgestimmte Nacht die Völkerverbrüderung probten.“[3] Bevor Brücken die beiden Flussufer miteinander verbanden, hatte der Fluss jedoch lange Zeit eine unüberwindbare Grenze gebildet.

Im Folgenden möchte ich mich auf die drei größten geteilten Städte an der deutsch-polnischen Grenze konzentrieren – Frankfurt (Oder)/Słubice, Guben/Gubin und Görlitz/Zgorzelec – und versuchen, verschiedene Entwicklungsstadien der deutsch-polnischen Grenzregionen und der Wahrnehmung ihrer Bewohnerschaft zu skizzieren.

Wenn man der Typologie der Interaktionsmodelle für Grenzregionen nach Martinez[4] folgt, die unten dargestellt ist, dann scheinen die deutsch-polnischen Grenzregionen die ersten zwei Etappen hinter sich gebracht zu haben und momentan zunehmend dem Muster der „kooperierenden Grenzregionen“ entgegenzustreben (siehe S. 166).

1. Gesprengte Brücken, geteilte Städte, der Fluss als Grenze

Die Symbolik der gesprengten Brücken des Jahres 1945 ist für alle drei Grenzstädte typisch. In Frankfurt (Oder), Guben und Görlitz wurden die Brücken kurz vor der Kapitulation Deutschlands vernichtet. Frankfurt (Oder) und Guben wurden im Krieg völlig zerstört. Am 26. Januar 1945 wurde Frankfurt (Oder) zur Festung erklärt und die Bevölkerung evakuiert. General Theodor Busse und Stadtkommandant Oberst Biehler ließen am 19. April die Oderbrücke in die Luft sprengen. Anschließend bombardierte die Rote Armee die Festung. Es kam zu Plünderungen und Brandschatzungen, was dazu führte, dass 65 Prozent der Stadtgebäude einschließlich der historischen Altstadt zerstört wurden.[5] Eine Frankfurterin erinnert sich: „Es hätte niemand sagen dürfen, dass die Polen und die Russen die Stadt zerstört haben. Denn soviel wir jetzt wissen, ist es ja doch so gewesen, dass die Stadt zur Festung erklärt worden ist, also völlig leer gezogen war. [...] Es hat auch auf jeden Fall Plünderungen gegeben. Aber wir wissen auch, dass die Leute, die etwas eher hier gewesen sind, in die Wohnungen ihrer Nachbarn eindrangen und dort klauten. [...] Und da sind die Russen gekommen. Da waren auch Polen.“[6]

Infolge der Bombardements stand Guben im Februar 1945 in Flammen. Die Altstadt östlich der Neiße war zu 88% zerstört. Im westlichen Teil betrugen die Zerstörungen etwa 21%.[7] Zu den Kriegszerstörungen kamen noch Plünderungen hinzu, was sich im Gedächtnis der Einwohner stark einprägte: „Die Plünderer in dieser Stadt nahmen, was und wann sie nur konnten. [...] Gubin war zerstört, ja, aber das alles konnte man wiederaufbauen. Man nahm es faktisch auseinander und fuhr das Material weg. [...] Aber die erste Phase war so, dass man nicht wusste, ob das alles polnisch bleibt. Deswegen musste man es zerlegen und wegtransportieren. Als man schon wusste, dass es polnisch bleibt, da gab es dann kein Geld.“[8]

Im Unterschied zu Frankfurt (Oder) und Guben blieb Görlitz samt historischer Altstadt wie eine Insel unzerstört. Nur die Neißebrücken und Eisenbahnbrücken wurden vernichtet. Es sind 37 Häuser mit Totalschäden verzeichnet, die 1945 zerstört wurden.[9]

Franz Scholz, der als Pfarrer in den Jahren 1940-1946 im Ostteil der Stadt eingesetzt war, schrieb am 25. Mai 1945 in sein Tagebuch: „Die ersten von Osten ankommenden Polen berichten uns, dass Görlitz die erste nicht vom Krieg zerstörte Stadt sei; weiter östlich läge fast alles in Trümmern, jedenfalls Brieg, Breslau, Liegnitz, Bunzlau, Lauban.“[10]

In allen drei Städten wurden sowjetische Stadtkommandanturen eingerichtet und provisorische Brücken über die Flüsse gebaut. Von allen Seiten strömten Flüchtlinge herbei, die in der Hoffnung, in die Heimat zurückkehren zu können, an der Grenze blieben. Ein Interviewpartner aus Guben erinnert sich an Folgendes: „Und es waren ja viele, die hier in Guben bleiben wollten, dann auf der Westseite, weil sie ja gar nicht glaubten, dass sie nicht mehr zurückkönnen. Sie haben ja wochen- und monatelang die Hoffnung noch gehabt, na ja die Polen haben uns vielleicht rausgeschmissen, nur um drüben zu plündern, und dann lassen sie uns wieder rein in unsere Häuser, und es war sehr viel zerstört, aber es war ja nicht so. Die Grenze war dann endgültig, nicht.“[11]

Es herrschte Chaos, Hunger und Überfüllung. Krankheiten verbreiteten sich schnell, weil es nicht genug Ärzte und Medikamente gab. Die Selbstmordrate war überdurchschnittlich hoch.

Noch bevor die Friedenskonferenz in Potsdam begann, versuchten die kommunistischen Machthaber in den Nord- und Westgebieten, die offiziell „wiedergewonnene Gebiete“ genannt wurden, die Politik der „vollendeten Tatsachen“ umzusetzen. Anfang Mai kamen im östlichen Teil aller drei Städte Vertreter der polnischen Administration zusammen, um diese Stadthälften von der sowjetischen Kommandantur zu übernehmen und jeweils eine polnische Stadt einzurichten. Nun wurde die angekündigte Teilung der Städte an Oder und Neiße Realität. In Frankfurt (Oder) und Görlitz lag die historische Altstadt auf der westlichen Seite des Ufers, während der östliche Teil nur eine Vorstadt bildete. Umgekehrt in Guben – die Altstadt war im Osten, aber alle infrastrukturellen Einrichtungen, Fabriken, Betriebe und der Bahnhof befanden sich westlich der Neiße. So sollten sich die Städte östlich des Flusses zu einem selbständigen Stadtorganismus entwickeln, während sie von ihrer wirtschaftlichen Basis abgeschnitten wurden.

Mit der Errichtung der polnischen Administration bekamen die östlichen Städte ihre Namen – Słubice, Gubin und Zgorzelice (dann in Zgorzelec umbenannt). Im Juni 1945 wurden die deutschen Bewohner hinter den Fluss ausgesiedelt. Frankfurt (Oder) zählte 1939 fast 84.000 Einwohner, davon wohnten 15.600 im östlichen Teil der Stadt.[12] Etwa 13.500 Gubener und 7.500 Görlitzer mussten den östlichen Stadtteil verlassen.[13] Theodor Treu, ein Görlitzer, notierte in seinem Tagebuch: „Immer häufiger verbreitete sich auch das Gerücht, dass die ganze Oststadt geräumt werden müsste – ich konnte und wollte es nicht glauben – und schließlich am 21. Juni 1945 an einem Donnerstag – wurde es zur furchtbaren Wirklichkeit: Um 6.30 Uhr früh kam der Befehl, (v. Haus zu Haus) durch die "deutsche Polizei," zur Räumung der Oststadt: Es war eigentlich eine Plünderungsaktion der Polen! Vergeblich versuchte ich bei der polnischen Kommandantur ein Erlaubnisschein zum Bleiben zu bekommen. Ich ging im Talar hinüber! Alles war erfolglos!“[14]

Man könnte sicher meinen, dass es die deutschen Aussiedler in den Grenzstädten leichter hatten als andere, weil sie den Wohnsitz nur innerhalb ein und derselben Stadt wechseln mussten. Andererseits war ihre Situation umso schwieriger, weil sie jahrelang voll Nostalgie über die Flüsse auf ihre verlorene Heimat blicken mussten.

Die Grenze wurde abgeriegelt, die Stadthälften isoliert: „Die Bewohner des östlichen Guben begaben sich oft auf die Westseite [...] Doch dann kam der 13. Juni 1945! Wieder wollten einige - auch ich gehörte zu ihnen – die Neiße in Richtung Ostteil passieren. [...] Doch nun stand da ein polnischer Wachposten und der ließ uns nicht passieren [...] Es gab hierzu eine Bekanntmachung, die wir nicht kannten. Diese hatte folgenden Wortlaut: Der Kommandant der Stadt Guben gibt bekannt, dass durch die Grenzfestlegung ab 13. Juni 1945 das Passieren der Neiße verboten ist!“[15]

Die Städte auf beiden Uferseiten gehörten zu einer etwa 30 Kilometer breiten Grenzzone. Dieses Gebiet wurde von Grenzschutzsoldaten besetzt, was die Bewegungsfreiheit und die Ansiedlung der Bürger beeinträchtigte. Hinzu kam die Unsicherheit der Westgrenze. Für die Einreise in die Grenzzone brauchte man spezielle Genehmigungen. Eine Frankfurterin hat folgendes Bild in Erinnerung: „Aus meiner Kindheit habe ich die Situation in Frankfurt und an der polnischen Grenze so in Erinnerung, dass sie eine ausgesprochen streng abgeschottete Grenze war. Wenn man z.B. Wanderungen, Schulausflüge oder private Spaziergänge in Richtung Lebus machte, musste man immer gegenwärtig sein, dass Grenzkontrollen waren, also man musste den Ausweis vorzeigen. Man konnte dann natürlich, wenn man einen Ausweis eingesteckt hatte und wenn man nicht besonders auffällig war, ganz ruhig weiter wandern, aber die Landschaft jenseits der Oder war für uns natürlich ganz weit weg.“[16]

Eine Interviewpartnerin aus Zgorzelec erzählte von Schwierigkeiten bei Familienbesuchen: „Man musste Einlassscheine haben, es gab Grenzkontrollen und das war nicht angenehm. Wenn man ausreiste, musste man von den Grenzschutzsoldaten kontrolliert werden. Es gab schlechte Verbindungen. Meine Familie aus Warschau und Kielce besuchte uns oft. Meine 70-jährige Tante vergaß einmal irgendwelches Papier und sie wurde unter Begleitung der Grenzschutzsoldaten durch die ganze Stadt zum Arrest geführt, weil sie verdächtig war.“[17]

Während die westlichen Teile von Flüchtlingen und Aussiedlern überfüllt waren, wurde im jeweiligen Ostteil erst eine Ansiedlungsaktion organisiert. Zu den ersten Bewohnern der Nord- und Westgebiete Polens gehörten die rückkehrenden Zwangsarbeiter, die Insassen der befreiten Konzentrationslager sowie Remigranten aus Westeuropa und die Militärsiedler. Dann folgten Umsiedler aus den an die Sowjetunion gefallenen Ostgebieten und Zugezogene aus Zentralpolen sowie den südlichen Woiwodschaften. Ein Gubiner betonte im Gespräch die Unsicherheit der neuen Ansiedler: „Diese Straße Piastowska, die entlang der Neiße nach oben bis WOP (Grenzschutzsoldaten) führt, sie war für die Zivilisten geschlossen. Das war hier der Eiserne Vorhang, so nannten wir sie, dort lag sie, nicht wahr [...] auf jeden Fall blühte das Leben wie nötig. Dort [in Guben] konnte man gleich nach dem Krieg den Wiederaufbau beobachten, das, weil sie sich dort als Besitzer fühlten und wir hier wie auf einer Bombe gesessen haben. In jedem Moment konnten wir erwarten, dass wir diese Gebiete werden verlassen müssen.“[18]

An der Grenze trafen sich Sieger und Verlierer, schreibt Anna Wolff-Powęska, Pioniere des Aufbaus, die auf diesem Terrain ein neues Leben anfingen, sowie Grundeigentümer, die Haus und Hof hatten verlassen müssen. Plünderer (szabrownicy) auf der Suche nach leichter Beute mischten sich mit denen, die im Kriege alles verloren hatten. Ehrgeizige Zukunftsplaner fanden sich in Gesellschaft leichtlebiger Abenteurer, die im „wilden Westen“ überleben wollten, wo Rechtlosigkeit, Korruption und das Faustrecht über die weitere Entwicklung der Region entschieden. Alle diese Menschen wurden mit unterschiedlichen Ideologien, Traditionen und Plänen für die Verwendung dieser Gebiete konfrontiert.[19]

Nach dem Krieg versuchten die kommunistischen Machthaber, die Erinnerungskulturen auf beiden Seiten des Flusses zu bestimmen und zu monopolisieren. In deutschen Stadtteilen war die neue Geschichtspolitik mit dem Mythos vom Antifaschismus verbunden. Die Abgrenzung vom Nationalsozialismus bildete die Grundlage für die politische Machtbildung in der SBZ/DDR. Dabei wies der Antifaschismus zwei Komponenten auf: eine historische, die auf Aussagen zur Geschichte der kommunistischen Opposition gegen das NS-Regime beruhte (Geschichtskonstruktion), und eine legitimatorische, die die Staatsgründung der DDR mit der ersten Komponente rechtfertigte. Widerstand und Opfertod erhielten also ihren Sinn nicht nur aus dem historischen Kontext des Nationalsozialismus, sondern aus der gesellschaftlichen Ordnung der DDR.[20] Somit bildete die schnelle Entnazifizierung die Priorität der neuen Macht.

In den östlichen Städten war die Polonisierung des übernommenen Landes, offiziell „Repolonisierung“ genannt, die wichtigste Aufgabe. Dabei spielte die piastische Staatenkonzeption, die zu einem Mythos[21] heranwuchs, eine wichtige Rolle bei der Begründung der Angliederung der deutschen Gebiete an den Westen Polens. Es wurden die Lebendigkeit und Dauerhaftigkeit der piastischen Traditionen in den neuen Nord- und Westgebieten betont. Man sprach von der „Rückkehr der Piasten-Länder,“ die nur von den Deutschen „okkupiert“ gewesen waren. Die „wiedergewonnenen Gebiete“ wurden von der kommunistischen Macht als einer von wenigen Faktoren betrachtet, die die Gesellschaft an die neue Macht binden sollten.[22] Bereits im Jahre 1944 rief man im Manifest des Polnischen Komitees für Nationale Befreiung (PKWN) vom 22. Juli alle Polen zum Kampf um die Rückkehr der vormals polnischen Gebiete wie Pommern, Oppelner Schlesien, Ostpreußen auf, um einen breiten Zugang zum Meer zu bekommen und polnische Grenzsäulen an der Oder zu errichten.[23]

Um das Ziel der Polonisierung zu erreichen, versuchte man alle Spuren des Deutschtums aus der Öffentlichkeit und auch aus dem Privatleben zu entfernen. Es handelte sich hier um Kulturgüter wie Denkmäler, Bücher, Andachtstafeln etc.,[24] aber auch um deutsche Inschriften auf Geschirr, Kleidern, Aschenbechern und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs. Die „Repolonisierungsaktion“ sollte auch Kirchen, Kapellen, Friedhöfe und Straßenkreuze umfassen. In Vergnügungslokalen war das Singen oder Abspielen von deutschen Liedern streng verboten.[25] Doch die ersten Aktionen beruhten meistens auf wilden Zerstörungen, die oft aus Rachegefühlen hervorgingen. So wurden auch Grabsteine auf den Friedhöfen und sogar Gebetsbücher zerstört.

Auch deutsch klingende Vor- und Nachnamen sollten geändert werden. Die Änderung der Vornamen betraf meistens Kinder, deren Eltern Angst vor Diskriminierung hatten. Eine Frau erzählt folgende Episode: „Heute war ich mit meiner Mutter in einem Amt, es hieß – Starostei. Man sagte, dass mein Vorname Hildegard deutsch ist und dass ich ihn in einen polnischen Vornamen ändern muss. Die Geschwister haben bestimmt schon polnische Vornamen, da nur ich hingegangen bin. Sie heißen: Aniela, Wanda, Hubert, Bernard. Ein Mann von dem Amt fragte, ob mir Halina gefällt und ob ich so heißen möchte. Ich sagte ja. Und so bin ich ab heute Halina. Vielleicht ist es besser so? Wenn ich gut Polnisch spreche, werden alle denken, dass ich eine echte Polin bin. Nun aber wenn ich weiterhin Hildegard heiße, dann weiß jeder, dass es ein deutscher Vorname ist.“[26]

Neben einer starken Propaganda auf Grundlage der „Piasten-Legende“ wurde ein negatives Bild von Deutschland, den Deutschen und der Gefahr des Revisionismus verbreitet, was als Integrationsfaktor für die polnische Gesellschaft dienen sollte.[27]

Da die polnischen und deutschen Kommunisten im sowjetischen Block mit der Entstehung der DDR auf den Aufbau von nachbarschaftlichen Beziehungen angewiesen waren, wurde dieses negative Bild nur auf Westdeutschland bezogen. Die Grenzregionen und insbesondere Grenzstädte wie Frankfurt (Oder)/Słubice, Guben/Gubin und Görlitz/Zgorzelec bildeten Sonderfälle, denn sie konnten nach Kriegsende ohne eine gewisse Zusammenarbeit nicht funktionieren. Nachdem der frühere Stadtorganismus geteilt wurde, blieben z.B. die Gasanlage in Zgorzelec, das Elektrizitätswerk und Wasserwerk aber in Görlitz.[28]

Die verlorene Heimat wurde auf beiden Seiten tabuisiert. Weder deutsche Flüchtlinge und Vertriebene, noch polnische Umsiedler aus „Kresy“ durften von ihrem Schicksal sprechen.

2. Der Fluss als Grenze der Freundschaft und des Friedens

Die große Anzahl an Flüchtlingen und Vertriebenen in der SBZ/DDR beeinflusste auch die Einstellung der KPD/SED in der Frage der Grenze zu Polen. In den ersten Nachkriegsjahren ging die Führungsspitze der SED von der Vorläufigkeit der Gebietszuweisungen nach der Potsdamer Konferenz aus.[29] Doch unter dem Druck Moskaus musste die DDR die Grenze an Oder und Lausitzer Neiße akzeptieren. Am 6. Juli 1950 wurde in Zgorzelec der Grenzvertrag unterschrieben. Beide Seiten stellten in Artikel 1 fest: „...dass die festgelegte und bestehende Grenze, [...] die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen bildet.“[30]

Die Unterzeichnung des Vertrages wurde von einer starken Propaganda über Freundschaft und Frieden begleitet, die sich symbolisch auch in den Straßennamen der Städte widerspiegelte: In Guben wurde die Alte Poststraße in Cyrankiewicz-Straße umbenannt, in Gubin erhielt eine Straße den Namen Ulica Wilhelma Piecka.[31] In Frankfurt (Oder) wurden der Posener Ring in Cyrankiewicz-Platz, der Bromberger-Ring in Bierut-Ring[32] umbenannt. Die Promenaden und Brückenstraße in Görlitz hießen nun Bolesław-Bierut-Straße, der Otto-Müller-Park wurde in Park des Friedens umbenannt.

Doch die Vertriebenen taten sich schwer mit der Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze im Görlitzer Vertrag. So war im Jahre 1953 während des Aufstands vom 17. Juni in Görlitz der Ruf nach einer Revision der Oder-Neiße-Grenze zu hören. Dieselbe Forderung kam von der intellektuellen Opposition im Jahre 1956: Wolfgang Harich sprach sich in seinem Memorandum zur weltgeschichtlichen Situation für die Rückkehr der größeren Teile Pommerns, der östlichen Mark Brandenburg, Schlesiens und Ostpreußens in das Gebiet der DDR aus.[33]

Für manche polnischen Bewohner der Grenzstädte brachte der Vertrag eine gewisse Sicherheit, doch die Mehrheit lebte bis in die 1970er Jahre hinein in Angst vor der Rückkehr der Deutschen. Ein Gubiner erzählt: „Am schlimmsten für diese Stadt war, dass jeder mehr oder weniger auf gepackten Koffern saß. [...] Die Mehrheit der Einwohner fühlte sich unsicher. Der morgige Tag war ungewiss. Es war unklar, wie die Politik sein wird, ob die Grenze hier verlaufen wird, oder ob Gubin deutsch wird, weil sich die Grenzen ändern.“[34]

Anfang der 1950er Jahre begann man, Brücken und Eisenbahnviadukte aufzubauen und die Stadtverwaltungen knüpften für die gemeinsame Nutzung von Wasser- und Gaswerken die notwendigsten Kontakte. Mit dem „Tauwetter“ nach 1956 kam eine gesteuerte Liberalisierung der Grenze.[35] Es wurden vor allem offizielle Treffen von Parteisekretären, Delegationen von Arbeitern und Jugendlichen abgehalten. Mit Einladungsschreiben durfte man nun die Grenze überschreiten. Auch wurden Kultur- und Sportveranstaltungen organisiert. Für die propagierte Freundschaft zwischen der DDR und der VR Polen bildete sich in folgenden Jahren der Begriff „zwangsverordnete Freundschaft“[36] heraus: „Es gab eine Zeit, als auf der Brücke Gras wuchs. Aber weil sie die Brücke der Freundschaft genannt wurde, trafen sich von Zeit zu Zeit, während für uns unverständlicher Festtage [...], auf ihrer Mitte beide Nationen. [...] Für uns waren das Begegnungen der Dritten Art. Wir wunderten uns, dass ein typischer Deutscher keinen Helm oder keine Handgranaten trägt und sich ruhig verhält.“[37]

Im Jahre 1967 wurde ein Abkommen unterzeichnet, wonach polnische Bürger, insbesondere Frauen, in den Grenzregionen der DDR beschäftigt werden konnten. Aufgrund dieses Abkommens wurden viele polnische Frauen im Feinoptischen Werk sowie im Kondensatorenwerk in Görlitz, im Chemiefaserkombinat in Guben und im Halbleiterwerk in Frankfurt (Oder) beschäftigt.

Dennoch bedeutete erst die nächste Etappe in der Geschichte der Grenze, also die Jahre 1972-1980, einen Durchbruch in den Beziehungen zwischen den Nachbarn an der Grenze. Die Öffnung der deutsch-polnischen Grenze am 1. Januar 1972 für den pass- und visafreien Verkehr wird oft als „Wunder an der Oder“ bezeichnet. Das Abkommen zwischen den neuen Machthabern Edward Gierek und Erich Honecker hatte vor allem einen politischen Charakter. Nach Aussage von Gierek sollte die Öffnung der Grenze auch einen weiteren Schritt in der deutsch-polnischen Versöhnung nach dem Muster Bundesrepublik – Frankreich darstellen.[38]

Diese Periode brachte für die Grenzgebiete eine neue Realität. Die Einwohner der geteilten Stadt durften erstmals lernen, was Nachbarschaft bedeutet. Und das Interesse daran war groß: In den Jahren 1972-1979 passierten polnische und deutsche Bürger die deutsch-polnische Grenze über 100 Millionen Mal.[39] Die deutschen Grenzraumbewohner begaben sich auf „Heimwehreisen,“ um ihre alten Häuser und Höfe, Schulen und Kirchen anzuschauen. Diese Besucher lösten bei manchen Polen Angst aus, wurden von anderen jedoch herzlich empfangen. Es wurden viele Bekanntschaften und Freundschaften begründet. So wurden in den Jahren 1972-1974 40 Ehen zwischen Bürgern aus Słubice und Frankfurt (Oder) geschlossen,[40] für Görlitz und Zgorzelec waren es 1963-1979 85 Ehen[41] und für Guben und Gubin 1972-1979 64 Ehen.[42]

Doch was diese Zeit prägte, waren nicht die Heimatreisen und die deutsch-polnischen Eheschließungen. In das Gedächtnis der beiden Gesellschaften gingen vielmehr die massiven Einkäufe deutscher Produkte durch polnische Touristen ein, bedingt durch die schlechte Versorgung in polnischen Geschäften. Dies wurde oft mit Schwarzhandel in Verbindung gebracht und rief unter der deutschen Bevölkerung großen Unmut hervor. In der DDR kursierte folgender Polenwitz: „Um 12 Uhr wird nun in den Kaufhäusern die polnische Nationalhymne gespielt, die Masse der Polen steht dann stramm, und wir können unsere Einkäufe erledigen.“

Adam Krzemiński, Publizist der Wochenzeitschrift Polityka, beurteilt in seinem Artikel „Der Oder-Neiße-Komplex“ die Kontakte zwischen den Bürgern der DDR und der VR-Polen sehr kritisch. Seiner Meinung nach behielten die Deutschen nur Scharen von Polen in Erinnerung, die die DDR-Geschäfte leer kaufen wollten, und die Polen Schikanen von Grenzbeamten, deren Uniformen – besonders ältere Menschen – an die Wehrmacht erinnerten. Weder im deutschen noch im polnischen Bewusstsein seien Spuren von Versuchen zu finden, literarische Brücken über die Oder und Neiße zu bauen, obwohl es in der DDR-Literatur eine Periode gab, in der man sich vom „polnischen Anderssein“ durchaus faszinieren ließ. Für die Polen wohnten die „echten Deutschen“ westlich der Elbe. Die offene Grenze habe gezeigt, wie es den beiden Gesellschaften an einer gemeinsamen Sprache fehlte. Nach der Schließung der Grenze 1980 versuchte die DDR-Propaganda, das eigene Volk zu überzeugen, dass die Polen, die noch kurz zuvor als Freunde bezeichnet und der ewigen und lebendigen Freundschaft versichert worden waren, Friedensstörer seien. Und wenn wir noch ergänzen, dass Honecker mit seinen Panzern gerne über die Oder und Neiße nach Osten marschiert wäre – was die Polen sicher gespürt haben – wundert es nicht, dass das Bild der DDR in den Augen der Polen negative Züge bekam.[43]

Soziologische Forschungen dieser Zeit zeigen sowohl positive, als auch negative Folgen der Grenzöffnung. Das Image der Grenzregion ist in dieser Zeit besser geworden. Viele verordnete Dienstkontakte entwickelten sich zu Privatkontakten. Jedoch entstanden auch neue Stereotype über das Einkaufsverhalten von Polen in deutschen Geschäften.[44]

Die wachsende Bedeutung der Solidarność-Bewegung in Polen führte dazu, dass am 20. Oktober 1980 die Grenze geschlossen wurde.

3. Die Grenze überwinden – die Zusammenarbeit im Rahmen der Euroregionen

Die politische Transformation in Polen und Deutschland eröffnete neue Chancen für die Grenzstädte. Anfang der 1990er Jahre wurden schnell Partnerschaftsabkommen unterzeichnet. Vorgesehen war die Zusammenarbeit in den Bereichen Schulwesen und Gesundheitswesen, zwischen Feuerwehren, ebenso eine gemeinsame Kommunalwirtschaft in der Wasser- und Energieversorgung sowie die Kooperation in der Umwelt- und Stadtplanung.[45] Wenig später kam es zur Gründung von Euroregionen: Am 21.12.1991 entstand die Euroregion Neiße, der Zgorzelec und Görlitz angehören; am 21.09.1993 die Euroregion Spree-Neiße-Bober, der die Städte Guben und Gubin angehören, und am 21.12.1993 die Euroregion Pro Europa Viadrina, zu der Słubice und Frankfurt (Oder) gehören. Im Bildungswesen schritt die Zusammenarbeit zügig voran: Im Jahre 1994 entstanden in Frankfurt (Oder) ein deutsch-polnischer Kindergarten, die Europa-Universität Viadrina und das Collegium Polonicum. In Guben wurde eine Europa-Gesamtschule eingerichtet. Heutzutage lernen in Sachsen ca. 1700 Schüler Polnisch als Fremdsprache und Görlitz ist die einzige Stadt in Deutschland, wo Schüler Polnisch von der ersten Klasse bis zum Abitur lernen können. Auch in Sachsen wurden im Jahr 2008 ergänzende Unterrichtsmaterialien für das Fach Geschichte „Geschichte verstehen – Zukunft gestalten“ gemeinsam von polnischen und deutschen Historikern herausgegeben, die vor allem in den Schulen in Sachsen und Niederschlesien genutzt werden.[46]

Durch die europäische Integration und Förderprogramme für Grenzregionen, wie z.B. INTERREG, durch die Maastricht-Verträge und das Schengen-Abkommen wurden viele Grenzbarrieren abgebaut. Allerdings wurden die Barrieren nach Osten verlegt. Die Einführung der Visumspflicht und insbesondere der hohe Preis für ein Visum, wie es Anna Tomaszewska in ihrem Beitrag in diesem Heft darstellt, erschweren jetzt die Grenzüberschreitung zwischen Polen und der Ukraine.

Die Doppelstädte versuchten, in der europäischen Identität einen Ausweg aus nationalen Antagonismen zu finden. Während der Europawoche vom 2. bis 9. Mai 1998 wurde am 5. Mai in einer gemeinsamen Stadtratssitzung die Europastadt Görlitz/Zgorzelec proklamiert, deren Ziel „eine Stadt – zwei Völker“ sein sollte. Im selben Jahr entstand die Eurostadt Guben-Gubin.

In den Doppelstädten an der deutsch-polnischen Grenze sprechen Lokalpolitiker immer häufiger von der Überwindung der Grenze und von grenzüberschreitender Kooperation. Eine europäische Identität wird als neues Identifikationsmuster für die Stadtbewohner beiderseits des Flusses angeboten. Doch ohne eine Auseinandersetzung mit den tabuisierten Problemen wird das europäische Image der Grenzstädte lediglich als neue Floskel der Politiker empfunden.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit entwickelt sich nicht automatisch. Gute Voraussetzungen dafür bilden eine gemeinsame Geschichte, Bilingualität, gemeinsame Interessen und letztendlich die gemeinsame Identifikation mit der Doppelstadt und die gemeinsame Identität der Bewohner dieser Stadt. Für die Doppelstädte an der deutsch-polnischen Grenze sind dies noch Aufgaben der Zukunft.