Entfernter ErfahrungsraumÜberlegungen zu West-Berlin und 1989[Notice]

  • Krijn Thijs

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  • Krijn Thijs
    Duitsland Instituut Amsterdam, Universiteit van Amsterdam
    k.thijs@uva.nl

Zwanzig Jahre danach – wer die fachhistorischen Publikationen der beiden deutschen Jubiläumsjahre 2009 und 2010 zu überblicken versucht, wird feststellen, dass darin der zentrale Ort des Geschehens, nämlich die Grenz- und Mauerstadt Berlin, nur sehr einseitig präsent ist. Es ist Ost-Berlin, auf das unser Blick im Regelfall fokussiert, und vom anliegenden West-Berlin erfährt man wenig. Das ist kaum verwunderlich. Das Ende des sozialistischen Zukunftsprojekts, die Auflösung der SED-Macht, der Zettel von Schabowski, der Ansturm auf die Mauer – alles das fand in der DDR statt, in ihrer implodierenden Hauptstadt und teilweise mehr noch in der heruntergewirtschafteten Provinz. Die große Geschichte wurde an anderen Orten gemacht – zunächst in Gdansk, Moskau, Ungarn, Leipzig, Prag, Ost-Berlin und Dresden. Im Herbst 1989 fand West-Berlin kaum statt. Auch unsere Erzählungen über den anschließenden Prozess der deutschen Vereinigung im Jahr 1990 führen uns an viele Orte der sich auflösenden bipolaren Welt, nur nicht nach West-Berlin: Verhandlungen und Gipfeldiplomatie in Bonn, Moskau, Washington, Paris, London, Warschau, Ost-Berlin und dem Kaukasus. Was war nun mit der „freien“ Insel im „roten“ Meer, der ehemaligen „Frontstadt,“ dem „Schaufenster des Westens,“ das doch als Pfand der Einheit und als Hebel einer Wiedervereinigung vom Westen immer beibehalten worden war? Im moment suprême, so scheint es, wehte der Mantel der Geschichte an West-Berlin vorbei. Oder doch nicht? Denn schließlich war die ummauerte Insel des Westens das erste Ziel aller ostdeutschen Ausreisenden. Als Objekt der Begierde wurde das kleine West-Berlin von Ostdeutschen überschwemmt, nachdem diese die Mauer eingedrückt hatten. Am ersten Wochenende kamen etwa zwei Millionen Menschen in die Stadt – eine glatte Verdoppelung der West-Berliner Einwohnerzahl. Die dramatischen Szenen der „flutenden Massen“ an zwischenstädtischen Grenzübergangsstellen führten zum finalen Legitimitätsverlust des DDR-Staates. Ohne West-Berlin hätte es diese Szenen so nicht gegeben – denn die Wiesen und Wälder der innerdeutschen Grenze luden nicht wie der Kurfürstendamm zum freudetaumelnden und mit Sekt besprühten Trabbi-Korso ein. Also: ohne West-Berlin kein 9. November 1989. Und dennoch. Auch in dieser Erzählform findet West-Berlin kaum statt. Die „Insel“ bleibt passiver Zielort in einer aus ostdeutscher Perspektive erzählten Geschichte des Mauerfalls. West-Berlin ist bloß Bühne und Dekor, es gibt den Ku’damm und das klatschende Publikum für die ostdeutsche Selbstbefreiung her. Später liefert es in Form seines Regierenden Bürgermeisters auch den Gastgeber für die symbolischen Grenzüberschreitungen namhafter Bundespolitiker und am Ende der Erzählung noch den Reichstag als Kulisse der Einheitsfeier. Dementsprechend fehlen in der neueren Literatur zum Mauerfall und zum Einheitsprozess West-Berliner Handlungen und Perspektiven in auffälliger Weise. So fehlt in Klaus-Dietmar Henkes breit angelegtem Sammelband bezeichnenderweise ein Beitrag zu West-Berlin. Jüngere Gesamtdarstellungen verlegen oft ihren Blick von der West-Berliner Freudennacht schleunigst wieder zurück auf Ost-Berlin und dann auf Bonn. Sogar in der bislang einzigen Gesamtgeschichte West-Berlins, letztes Jahr von Wilfried Rott vorgelegt, werden die ansonsten konsequent verfolgten West-Berliner Erfahrungsräume ab November 1989 auf einmal durch die auf den 3. Oktober ausgerichtete Meistererzählung der nationalen Wiedervereinigung kolonisiert. Das Eigenleben im Biotop scheint plötzlich nicht mehr interessant: Aus West-Berliner Warte bleibt diese Geschichte größtenteils unerzählt. Auffällig ist dies insofern, als das mitten in der DDR liegende West-Berlin über eine einmalige westliche Nahsicht auf die turbulenten Ereignisse im ostdeutschen Umbruchsgebiet verfügte. Dazu gehörten auch die kürzesten Verbindungen zu allerlei Geschehnissen und Akteuren des ostdeutschen „Endspiels“ (Kowalczuk). Bis tief in den Herbst 1989 hinein fanden hier abtastende Begegnungen zwischen den noch getrennten Blockwelten statt. Hier musste die liberaldemokratische Gesellschaftsordnung in kürzester Distanz auf die Veränderungen im Osten reagieren; hier mussten westliche Politiker den plötzlichen Erdrutsch sowohl praktisch als auch theoretisch im engsten Zeitrahmen bewältigen, und hier mussten dann die epochemachenden Veränderungen durch den Mauerfall auch in die alltäglichen Lebenswelten der eben noch abgeschirmten …

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