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„Ich bleibe Emigrant“

George L. Mosse

Wer von Juden und dem heutigen Deutschland spricht, spricht in der Regel von den Juden, die selbst oder deren Eltern in den letzten zwanzig Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion im Rahmen des „Kontingentflüchtlingsgesetzes“ nach Deutschland gekommen sind. Über 190,000 russische Juden sind laut Jeffrey Peck zwischen 1989 und 2005 nach Deutschland emigriert, und die wirkliche Zahl mag noch höher liegen, denn viele wurden nicht Mitglied in der offiziellen jüdischen Gemeinde und blieben daher ungezählt. Schätzungen liegen bei 200,000 bis 250,000. Diese jüngste russisch-jüdische Immigration nach Deutschland ist bereits vielfach untersucht worden. Eine Reihe von Veröffentlichungen z.B. des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam und des Kollegiums für Jüdische Studien an der Humboldt-Universität beschäftigen sich mit den soziologischen, politischen und religiösen Hintergründen dieser transnationalen Gruppierung. Auch diese Grenzgänger mögen ihren Schritt zunächst zögerlich nach Deutschland gewandt haben. Doch handelte es sich bei ihrem Grenzgang nicht um eine Rückkehr. Sie trugen keine Erinnerungen an ein früheres Deutschland mit sich und mussten nicht nachweisen, dass ihnen ihre deutsche Staatsbürgerschaft im Dritten Reich aberkannt worden war.[1] Eine deutsche Abstammung war nicht Bedingung für die Einwanderung. Jeffrey Peck schreibt über die Immigranten sie seien „proud Russians as well as Jews,“ von denen viele ihre Loyalität zum alten Heimatland mit den militärischen Auszeichnungen demonstrieren, die sie als Rotarmisten im Kampf gegen die Wehrmacht erwarben. Dass sie aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und nicht nach Israel oder Amerika auswanderten, müssen sie vor Israelis und Amerikanern oft rechtfertigen — wie ein Interviewpartner Peck erklärt: „They [American Jews] keep asking me why I want to live here, but Germany does not mean fascism for me and America is not so great.“[2] Sie begründen ihre Einwanderung nach Deutschland u.a. mit dem Hinweis darauf, dass Deutschland ihnen einfach geographisch und vielleicht auch ideologisch näher liegt. Peck: „Many choose to live in Germany, sometimes selecting it over Israel or the United States, because in Eastern Europe Germany is seen as a major economic powerhouse and a land of economic opportunity. Some like its proximity to Russia and its familiar European heritage and others prefer Germany because it is presumed safer and more secure than Israel.”[3]

1. Juden in Deutschland

Im Gegensatz zu den neuen Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion ist das Verhältnis amerikanischer Juden zu Deutschland nach wie vor stark von der Erfahrung der Verfolgung geprägt. Dennoch beginnt sich auch in jüdischen Kreisen in den USA ein neues Verhältnis zu Deutschland zu entwickeln. Die „zögernden Grenzgänger“ deren Verhalten im Folgenden beleuchtet wird, sind amerikanische Juden deutscher Herkunft, die sich in jüngster Zeit häufiger entscheiden, nach Deutschland zu reisen und in einigen Fällen sogar die deutsche Staatsbürgerschaft wieder anzunehmen. Was motiviert sie, diesen Schritt zu tun? Wie verhandeln die Familien untereinander ihre Beziehung zu Deutschland? Was beeinflusst ihre Entscheidungen?

Um einige Antworten vorwegzunehmen: Die Generationenunterschiede liegen auf der Hand. Während die Überlebenden selbst nach wie vor mit dem Trauma der Verfolgung kämpfen und in den seltensten Fällen eine Rückkehr nach Deutschland ernsthaft in Erwägung ziehen, sehen die von der Wirtschaftskrise in den USA besonders hart getroffenen Jüngsten der Enkelgeneration das vereinigte Deutschland im vereinten Europa, mit EU-Reisepass und Arbeitserlaubnis, ähnlich wie ihre Religionsgenossen aus St. Petersburg oder Tel Aviv als attraktive potentielle Alternative. Sie sehen in Deutschland und Europa vor allem hohe Lebensqualität. Dazu zählen die meist guten öffentlichen Verkehrsmittel, ein reiches Kultur- und Sozialleben, angenehm geringe Distanzen (im Gegensatz zu den USA) zwischen vielen interessanten Städten und Ländern in Europa. Auch wenn sie als kleinste Minorität in den USA oft selbst Erfahrung mit Antisemitismus gemacht haben, ist ihr Deutschlandbild nicht in erster Linie vom Antisemitismus geprägt. Deutsche Organisationen wie die Goethe-Institute, die Konsulate, der DAAD, auch deutsche Wirtschaftsunternehmen in den USA und natürlich auch Deutschprogramme an Schulen und Universitäten sind bestrebt, ein modernes Bild von Deutschland zu zeichnen, das der Vergangenheit Rechnung trägt und zugleich Eindrücke jüngster Entwicklungen vermittelt — die von der deutschen Botschaft unterstützten Campuswochen zum 20. Jahrestag des Mauerfalls zum Beispiel, denen im Herbst 2010 eine Aktion zum Klimawandel folgte und 2011 ein Besinnen auf die deutsche Sprache folgen wird, tragen dieser Aufgabe Rechnung. Sehr wichtig ist auch die Arbeit von Organisationen wie Facing History and Ourselves, die viele US-Amerikaner bereits im Mittelschulalter von 8-10 Jahren im Geschichtsunterricht kennenlernen, und die bestrebt ist, die Erfahrung von Diskriminierung und Verfolgung im Zweiten Weltkrieg in größere historische Zusammenhänge einzubetten. Auch das Internet hilft über anfängliche Berührungsängste hinweg. Ein kurzer Aufenthalt in Berlin, München oder Frankfurt während einer Europareise oder ein Schüleraustausch bilden oft den nächsten Schritt zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Land, das ihre Großeltern vertrieb.

Das Deutschlandbild der Jungen erscheint den Älteren dagegen oft naiv und ahistorisch. Die Überlebenden selbst stehen der jüngsten Entwicklung eher skeptisch gegenüber — hier gibt es kaum Unterschiede zwischen Israelis und Amerikanern. Nur wenige entscheiden sich selbst zu einem Besuch in Deutschland. Für die meisten überwiegt der Schmerz des erfahrenen Verlustes — und dies, obwohl und oft gerade weil die emotionale Beziehung zu Deutschland als Heimatland durchaus nach wie vor sehr stark ist.

2. Hintergrund: Deutsche Staatsangehörigkeit

Im neunzehnten Jahrhundert kämpften Juden in Deutschland jahrzehntelang vergebens um ihre bürgerlichen Rechte. Geringe Fortschritte (wie im Zuge der Napoleonischen Eroberungen) wechselten wiederholt mit Enttäuschungen ab. Erst die Reichsverfassung von 1871 machte alle in Deutschland lebenden Juden de jure zu gleichberechtigten Staatsbürgern; de facto gab es nach wie vor viele Einschränkungen. Doch auch Staatsbürger blieben sie keine 65 Jahre. Als Teil der „Nürnberger Gesetze“ machte das „Reichsbürgergesetz“ die Juden in Deutschland im November 1935 explizit zu Bürgern zweiter Klasse. Im November 1941 wurde deportierten deutschen Juden durch die 11. Verordnung des Reichsbürgergesetzes „mit dem Grenzübertritt ins Ausland“ automatisch die Staatsbürgerschaft entzogen. Als Volks- und Staatsfeinde gebrandmarkt, hatte das Gros der Überlebenden keine Ambitionen, die deutsche Staatsbürgerschaft nach 1945 zurückzufordern. Auch von den ca. 250,000 aus Konzentrationslagern in Deutschland befreiten Juden (die Mehrheit aus Polen stammend), die in den ersten Nachkriegsjahren in DP Camps untergebracht waren, und von denen Tausende in den Wochen nach Kriegsende an den Folgen von Unterernährung und Folter starben, verließen mehr als 90% Deutschland noch in den ersten Nachkriegsjahren.[4]

Nur um die 20,000 blieben (wie z.B. Victor Klemperer) im Lande — zumeist, wie Klemperer, wegen ihrer „arischen“ Ehepartner und Familien — oder kehrten, wie der 2010 verstorbene Publizist Ernst Cramer oder der Vater der Autorin Stefanie Zweig (bekannt durch Caroline Links Verfilmung ihres Buches Nirgendwo in Afrika[5]) aus Sehnsucht zu Sprache und Kultur in die deutsche Heimat zurück, wo sie, das beschreibt Zweig sehr eindrücklich im Folgeroman Irgendwo in Deutschland, und Atina Grossmann hat dies in ihrer Studie Jews, Germans, and Allies. Close Encounters in Occupied Germany (2006) bestätigt, durchaus nicht immer herzlich willkommen geheißen wurden. Andere kamen auch in die DDR, mit dem Traum, beim Aufbau eines anderen, antifaschistischen Deutschlands zu helfen.[6] Doch die Rückkehrer wurden oft bitter enttäuscht: Antisemitismus war auch im Nachkriegsdeutschland weit verbreitet:

…there should be no doubt that the philosemitism or shamed silence that tabooized anti-Jewish acts or utterances — attitudes often attributed to postwar Germany — not only coexisted with, but were often overwhelmed by, a strong and entirely acceptable antisemitism. [7]

Im Kampf gegen Antisemitismus fanden sich auch nach dem Krieg in der restlichen Bevölkerung keine Verbündeten. Grossmann beschreibt z.B. eine Demonstration von über 1,000 Juden gegen antisemitische Gewalt und Polizeiaktionen in München 1949, an der offensichtlich keine Nicht-Juden teilnahmen.

Seit 1950 ermöglicht Artikel 116 des Grundgesetzes ehemaligen Verfolgten des Nazi-Regimes sowie deren „Abkömmlingen“ die Wiedererlangung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft. Jahrzehntelang machten von dieser Möglichkeit nur wenige Gebrauch — und dies, obwohl für emigrierte deutsche Juden die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft sofort bestand, die erst im Jahre 2000 allgemein durchgesetzt wurde. Die Wiederannahme der deutschen Staatsbürgerschaft zwang sie also nicht, die Staatsbürgerschaft des Landes, in das sie geflohen waren, aufzugeben. Doch obwohl viele unter der Exilerfahrung zeitlebens litten, waren die Erfahrungen mit Nazi-Deutschland zu schmerzhaft, als dass sie eine Rückkehr in Erwägung ziehen wollten. Selbst eine Besuchsreise war für die meisten ausgeschlossen.

Unter dem Eindruck des Traumas der Eltern und aus Respekt vor ihnen kehrten auch die Kinder der Überlebenden sich nur selten nach Deutschland zurück. Die wenigen, die es dennoch tun/taten, müssen/mussten sich oft vor ihren Familien und Gemeinden rechtfertigen. Sue Stern, die lange Jahre als (in England geborene) Lektorin an der Universität Frankfurt tätig war, sprach auf Vortragsreisen durch die USA oft von Begegnungen mit amerkanischen Juden, die Sterns Entscheidung, in Deutschland zu leben, als Verrat empfanden. Sie trat dem entschieden entgegen: 1996 veröffentlichte sie ein Buch zum Thema — Speaking Out: Jewish Voices from United Germany.[8] Darin vermittelte sie amerikanischen Juden Deutschland so, wie sie es kannte, mit dem Ziel, auf beiden Seiten Vorurteile abzubauen.

3. Perspektive auf Deutschland: Israel vs USA

Das Verhältnis amerikanischer Juden zu Deutschland unterscheidet sich nicht nur von demjenigen der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch im Vergleich mit Israelis besteht ein Unterschied, den es ausführlicher zu untersuchen gilt. Die online-Zeitschrift Israel Heute berichtete am 10. September 2007, dass im Jahre 2006 über 4,000 Israelis die deutsche Staatsbürgerschaft beantragten, was einen 50%igen Anstieg gegenüber dem Vorjahr bedeutete.[9] Schon 2003 beschrieb das Magazin hagalil den dramatischen Anstieg der Anträge seit 2000, und zitierte einen Antragsteller: „Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft als eine zukünftige Versicherungspolice ausstellen lassen. In Stuttgart ist die Verzweiflung bequemer.“[10] Laut Wikipedia lebten im Jahre 2005 60,000 Juden mit deutschem Pass in Israel. Diese Zahl mag, wenn man Wikipedia Glauben schenkt und der Trend anhielt, heute fast doppelt so hoch liegen.[11] Die politischen Unsicherheiten in Israel sind sicherlich der Hauptgrund für den hohen Anstieg. Andere Erklärungen für die Differenzen zwischen Israel und den USA können in der unterschiedlichen politischen Ausrichtung derer zu finden sein, die in den 1930er Jahren aus Deutschland nach Israel bzw. in die USA gingen. Auch wird die Tatsache, dass das Engagement deutscher Nachkriegsregierungen sich auf Israel konzentrierte (von Reparationszahlungen bis zur Etablierung von Städtepartnerschaften, von gemeinsamen wirtschaftlichen und militärischen Projekten bis zur Arbeit der christlich-jüdischen Gesellschaft etc.) mit eine Rolle spielen sowie natürlich die geographische Nähe Israels zu Europa. Tatsache ist aber auch, dass in den USA heute noch immer mindestens ebenso viele Juden leben wie in Israel[12] und dass man die besonderen Bedingungen des amerikanischen Exils berücksichtigen muss, wenn man das Verhältnis von Juden zu Deutschland heute untersuchen oder verbessern möchte.

Auch in den USA wird inzwischen eine Zunahme des Interesses an der deutschen Staatsbürgerschaft verzeichnet. Das Generalkonsulat für Neuengland in Boston bearbeitet inzwischen jährlich ca. 100 Anträge auf Staatsbürgerschaft von ehemals deutschen Juden, von denen 99% positiv beschieden werden. Die Mehrheit der Antragsteller sind Enkel von Überlebenden. Die deutsche Staatsbürgerschaft wird ihnen nicht einfach ausgehändigt. Es muss ein Antrag gestellt werden und mit diesem Antrag der Nachweis erbracht werden, dass jemand tatsächlich Deutsche/Deutscher war und Deutschland aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen verlassen musste. Die deutschen Behörden sind dabei aber grundsätzlich recht großzügig. Im Gegensatz zu anderen Verfahren helfen sie z.B. bei der Ermittlung, stellen Suchanträge an Archive usw. Alles, was irgendwie relevant ist, wird für die Dokumentation akzeptiert. Sind die Antragsteller Kinder, Enkel oder Urenkel von Verfolgten, müssen sie darüber hinaus die Abstammung von den Verfolgten nachweisen, also durch die Geburtsurkunde sowie Heiratsurkunde der Eltern. Je weiter es in der Abstammungslinie heruntergeht, desto mehr Dokumente müssen vorgelegt werden.

Das Gesetz hat eine kuriose Ausnahme, die Kinder von deutschen Frauen betrifft. Abgelehnt werden Anträge von Kindern in den Fällen, in denen die verfolgte Person weiblich war/ist und ihr Kind vor 1953 geboren ist. In diesem Fall hat nur die Mutter, nicht aber das Kind ein Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Diese Ausnahme hängt mit dem deutschen Staatsangehörigkeitsrecht zusammen, nach dem man erst ab 1975 die deutsche Staatsangehörigkeit durch eine deutsche Mutter erwerben konnte. (Interessanterweise sind uneheliche Kinder, bei denen Gefahr bestünde, dass sie staatenlos würden, von dieser Regelung ausgeschlossen.) Diese Ungleichbehandlung betrifft alle Kinder (egal ob jüdisch oder nicht-jüdisch), die vor 1975 geboren wurden und nur eine deutsche Mutter, aber keinen deutschen Vater hatten. Es gab von 1975 bis 1978 eine dreijährige Übergangsfrist, während derer Betroffene die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen konnten. Nach Ablauf der Frist war dieser Anspruch jedoch verjährt. Nur für Wiedergutmachungsfälle wird diese Frist bis 1953 zurückverlegt. Das Jahr 1953 wurde deshalb als Frist festgesetzt, weil das 1949 verabschiedete Grundgesetz die Bestimmung enthielt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Den Verfassungsgebern war jedoch klar, dass es viele Gesetze gab, die gegen diesen Grundsatz verstießen. Da 1949 nicht alle alten Gesetze sofort außer Kraft gesetzt wurden, wurde festgelegt, dass alle gegen diesen Grundsatz verstoßenden Gesetze reformiert oder außer Kraft gesetzt werden sollten. Für den Fall, dass dies nicht gelänge, wurde die Frist 1953 gesetzt. Alle Gesetze, die zu diesem Zeitpunkt noch gegen den Gleichheitsgrundsatz verstießen, wurden automatisch ungültig. Das Problem dieser Regelung ist natürlich, dass jüdische Frauen, die durch die Nazis gezwungen worden waren, Deutschland zu verlassen, gezwungen waren, Nicht-Deutsche zu heiraten. Dementsprechend sollte auch ihren Kindern die deutsche Staatsbürgerschaft bewilligt werden. Gegen diese Ungleichbehandlung wurde aber bereits durch mehrere Instanzen hindurch erfolglos geklagt.

4. Generationenwandel: Zurück nach Deutschland, ja oder nein?

Um die deutsche Staatsbürgerschaft bewerben dürfen sich sowohl die Überlebenden selbst, als auch ihre Kinder oder Enkel. Jede Kombination ist möglich. Die Mehrzahl der Anträge in Neuengland wird von Enkelkindern gestellt. Wenige Überlebende selbst wollen diesen Schritt tun. Befragt, was sie zu diesem Schritt bewegt, geben die meisten pragmatische Gründe an — den Erwerb des EU-Passes. Emotionale Gründe werden eher von den wenigen Überlebenden gegeben, die selbst den Antrag stellen. Das Konsulat verzeichnet eine Zunahme der Anträge in den vergangenen Jahren. Aufgrund von Gesprächen mit den übrigen neun Konsulaten in den USA konnte Konsulin Kirsten Hardt bestätigen, dass die grundsätzlichen Aspekte sich ähneln — die Anzahl der Ablehnungen, die Anforderungen, Motive usw.

Natalie Tauchner kann die Einschätzung des Bostoner Konsulats ebenfalls bestätigen. Sie betreut in ihrer Anwaltskanzlei in New York inzwischen Dutzende von Anträgen im Jahr. Im Monat erreichen sie ca. dreißig Anfragen, von denen im Endeffekt fünf den eigentlichen Antrag stellen. Allerdings werden aus diesen fünf dann in der Regel fünfzehn bis zwanzig, denn die Anträge werden zumeist von ganzen Familien gestellt. Viele, die Interesse bekunden, so Tauchner, erweisen sich bei genauerem Hinsehen nicht als berechtigt. Laut Tauchner verfolgen 80% derer, die berechtigt sind, den ganzen Prozess bis zu Ende. Auch sie bestätigt, dass die Anträge in der Regel von Enkeln von Holocaust-Überlebenden gestellt werden, die es insbesondere ins kosmopolitische Berlin — und natürlich nach Europa insgesamt — zu ziehen scheint.

Nicht nur die Frage der Staatsbürgerschaft, auch die Entscheidung, nur nach Deutschland zu reisen, wird von den Generationen unterschiedlich gehandhabt. Während die Enkelgeneration pragmatisch denkt und ihre transnationale Identität im Wesentlichen als Möglichkeit betrachtet, Neugier zu befriedigen und berufliche Aussichten zu erweitern, sind die Kinder von Emigranten oft eher emotional motiviert, auf der Suche nach den eigenen Wurzeln.

So beschreibt es z.B. Karen Frank, die Tochter von Lore und Gustav Frank in Sybille Tiedemanns Dokumentarfilm Briefe aus Chicago (2008), dem Folgeprojekt, das zehn Jahre nach ihrem Dokumentarfilm Kinderland ist abgebrannt (1998) entstand, für den sie 1998 mit dem deutschen Filmpreis ausgezeichnet wurde. In Briefe aus Chicago zeigt die Filmemacherin, wie Gustav Frank, der bis zu seinem Lebensende fließend schwäbelte, sich nicht von seinen Fotos aus Ulmer Kindertagen trennen mochte, während seine Frau Lore den Kontakt nach Deutschland nach wie vor vehement ablehnte – in Kinderland ist abgebrannt war sie die einzige der zwölf ehemaligen Schulkameradinnen, die sich bis zum Schluss weigerte, am Klassentreffen in Ulm teilzunehmen. Nur zur Filmpremiere entschied sie sich, nach Deutschland zu reisen. Erst nach Gustavs Tod und ihrer Übersiedelung in ein Altersheim dekoriert sie ihre Wände mit Szenen aus der alten Ulmer Heimat. Die Tatsache, dass sie dies unter dem Einfluss der Alzheimer-Krankheit tut, mag die traumatischen Hintergründe verwischen. Die deutsche Sprache haben Lore und Gustav ihrer Tochter bewusst nicht beigebracht. Karen erinnert sich, dass die Eltern während ihrer Kindheit zwar untereinander Deutsch sprachen, mit ihr jedoch grundsätzlich auf Englisch bestanden.

Als sie zur Uraufführung des Films dann doch gemeinsam nach Deutschland kamen, war es die Tochter, die von der starken emotionalen Berührung sprach, die die Begegnung mit der Heimat der Eltern und der Besuch des ehemaligen Elternhauses für sie bedeutete.

5. Jüdisch-Deutscher Dialog

Bei einer Besprechung des Films im jüdisch-deutschen Dialogkreis in Brandeis wurde deutlich, wie sehr diejenigen, die selbst als Kinder von Überlebenden in den USA aufwuchsen, sich mit Karen Frank identifizieren können. Genau so sei das bei ihnen zuhause gewesen — Kaffeekränzchen am Sonntagnachmittag, Bilder von deutschen Landschaften an den Wänden — aber Deutsch lernen, das Land selbst besuchen — ausgeschlossen. Ihr Deutschsein empfindet die Generation der Kinder von Überlebenden oft als Belastung, die einer Art Phantomschmerz gleichkommt, denn sie haben keine wirkliche Erinnerung an den Verlust und sind doch geprägt von den schmerzhaften Erinnerungen der Eltern. Uta Larkey vom Goucher College in Baltimore bestätigt dies in ihrem Projekt Past Forward: the Holocaust in Family Memory, das die Beziehung zu Holocaust und Erinnerung zwischen den Generationen untersucht und das demnächst in Buchform erscheinen wird. Arbeiten wie die von Sybille Tiedemann und die Arbeit der Organisation One-by-One ermöglichen einen Einblick in die Generationenkonflikte dieser besonderen „transnationalen“ Immigranten-Gruppe und helfen, die Konflikte einer breiteren Öffentlichkeit in beiden Ländern verständlich zu machen.

Der von Gershom Scholem totgesagte deutsch-jüdische Dialog kann in der Tat im Schatten des Holocaust nur weiterexistieren, wenn man den historischen Hintergrund in die Gegenwartsdiskussionen mit einbezieht. Auch Klaus Berghahn hat dies in seiner Einleitung zum Symposium für George L. Mosse The Jewish-German Dialogue Reconsidered schon 1996 festgehalten. Dennoch hält Berghahn die Weiterführung des Dialogs im Sinne Mosses für unabdingbar: „Whereas Scholem is insterested in the question of how much German Jews had to sacrifice in order to become part of the German Bildungselite, Mosse points out how much they contributed to the German ideal of Bildung.”[13] Mosse, so Berghahn, sah auch nach dem Holocaust die Möglichkeit für einen Neuanfang. Der deutsch-jüdische Dialog muss keine Flucht in ‚post-memory’ sein. Positive Ansätze zur Weiterführung des Dialogs gibt es viele: Man kann sie sowohl in der Ausweitung jüdischer Studien an deutschen Universitäten, als auch in den Publikationen der German Studies in den USA finden.

Die Brandeis University war in gewisser Hinsicht schon immer Teil dieses Dialogs. Als einzige nicht konfessionell gebundene amerikanische Privatuniversität in jüdischer Trägerschaft wurde die Universität 1948 von Immigranten gegründet, motiviert durch den bestehenden numerus clausus für jüdische Studenten an amerikanischen Eliteuniversitäten und durch das Bedürfnis der jüdischen Religionsgemeinschaft, es den übrigen Religionen gleichzutun und dem Land eine Universität anzubieten, wie der Historiker und Gründungspräsident Abraham L. Sachar es in seinem Buch A Host At Last formulierte.[14] In den ersten Jahrzehnten war Deutsch an der Universität eine Art inoffizielle lingua franca, denn die Mehrzahl der Professoren kam aus Europa, viele, wie z.B. Herbert Marcuse, aus Deutschland selbst. Die Eltern von Louis Dembitz Brandeis, dem ersten jüdischen Richter am Obersten Gerichtshof, nach dem die Brandeis University benannt wurde, gehörten zu denen, die Deutschland nach der vergeblichen Revolution von 1848 enttäuscht verlassen hatten. Brandeis selbst kehrte als Jugendlicher noch einmal nach Deutschland zurück, um an der Annen-Realschule in Dresden seinen Schulabschluss zu machen — er sprach fließend Deutsch, und viele seiner späteren Bildungskonzepte wurden von dieser Erfahrung stark beeinflusst. Auch er ist also ein frühes Beispiel transnationaler Identität.

Deutsch war von Anfang an Unterrichtsfach an der Universität, über vier Jahrzehnte hinweg gelehrt von Professor Harry Zohn (von 1951-1996), der sich u.a. mit Übersetzungen von Walter Benjamin, Martin Buber und Gershon Scholem einen Namen machte. 1994 gründeten Fakultätsmitglieder den Jewish-German Dialogue mit Unterstützung durch den Rabbiner Albert Axelrad und Gisela Schwing, der Ehefrau eines Mitarbeiters am Deutschen Konsulat, durch deren Initiative noch drei weitere solcher Gruppen im Bostoner Raum entstanden. Im Gegensatz zu einigen der anderen Gruppen, die sich in privaten Wohnzimmern treffen, finden die Dialogtreffen an der Universität statt. Themen reichen vom Einfluss der russischen Zuwanderer auf die jüdischen Gemeinden in Deutschland über Wibke Bruhns’ Biographie ihres Vaters bis hin zur US-Premiere der Musik des von den Nazis in Litauen ermordeten Komponisten Edwin Geist. Die Teilnehmer an den ca. 6-8 Veranstaltungen im Jahr rekrutieren sich aus mehreren Generationen: Holocaust-Überlebende, Kinder und Enkel von Überlebenden, jüdische und nicht-jüdische deutsche Fakultätsmitglieder ebenso wie (sowohl jüdische als auch nicht-jüdische) deutsche Studentinnen und Studenten.

6. Deutschlandreise

Über zehn Jahr lang reiste eine kleine Zahl der jüdischen Mitglieder der Bostoner Gruppen auf Einladung der Bundesregierung jeweils im August zu einem 10-tägigen Seminar nach Berlin, das von Dr. Jaroslav Szonka in der Europäischen Akademie betreut wurde. Anschließend berichteten die Reisenden in einem gemeinsamen Treffen von ihren Erfahrungen, und auch von den Alpträumen, die der Reise vorausgingen. Das Reiseprogramm umfasste sowohl Besuche bei Konzentrationslager-Gedenkstätten, als auch Treffen mit Politikern und anderen, z.B. mit Lehrern, die das Thema Holocaust im Unterricht behandelten.

Das sehr intensive 10-tägige Seminar bot den Besuchern einen Einblick in die Arbeit, die in Deutschland zum Gedenken an den Holocaust geleistet wird — und machte zugleich aufmerksam auf die besonderen Herausforderungen der Wiedervereinigung und z.B. auf die Arbeit zur Integration von Minderheiten. Auch Treffen mit Vertretern der jüdischen Gemeinden waren Teil des Besuchsprogramms.

Bei der Auswahl derer, die an den Seminaren teilnahmen (in der Regel war die Reisegruppe auf sechs Personen beschränkt), wurde darauf geachtet, den Teilnehmern die Möglichkeit zu einem die Generationen übergreifenden Dialog zu bieten. Beim letzten Bericht-Treffen derer, die im August 2009 nach Berlin gereist waren, erschien dies besonders gelungen. Deutlich wurden die Unterschiede in der Wahrnehmung Deutschlands: Während die Studenten relativ unbefangen Vergleiche anstellten, z.B. zwischen dem, was in Deutschland in Sachen Holocaust im Schulunterricht getan wird, und dem, was sie selbst in ihrer Schulzeit erfahren hatten, stand für die älteren Teilnehmer nach wie vor die Frage im Vordergrund: Wie konnte dieses Land derartige Massenverbrechen begehen? Larry Loewenthal, lange Jahre Vorsitzender des American-Jewish Committee in Boston, brachte die Gefühle der älteren Reisenden auf den Punkt: Als Jude sei er trotz aller Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Gastgeber in Deutschland immer auf der Hut. Er könne nicht umhin, ständig die Verbrechen der Nazis an seinen Familienmitgliedern vor Augen zu haben, und er frage sich permanent: Wie konnte das geschehen? Hier, in diesem zivilisierten, hochkultivierten Land? Loewenthal sprach im Anschluss an seine Reise vor einer Reihe von jüdischen Gemeinden über seine Erfahrungen. Bei seinen Vorträgen erfuhr er, was Sue Stern schon vor fünfzehn Jahren erlebte: Viele seiner Zuhörer sahen es noch heute als Verrat an den Ermordeten an, dass er überhaupt nach Deutschland gereist war.

Dennoch zeichnet sich in der Haltung zu Deutschland deutlich eine Veränderung ab. Während es vor zehn Jahren noch häufiger passierte, dass Studentinnen hinter vorgehaltener Hand erzählten, sie könnten ihren Großeltern gegenüber nicht erwähnen, dass sie Deutsch lernten, kommen inzwischen mehr und mehr Studierende schon aus der High School, die auf einer Europareise auch in Berlin oder München Station gemacht haben — oft war dies ausschlaggebend für ihre Entscheidung, Deutsch studieren zu wollen — eine Sprache, die leider zunehmend aus den Lehrplänen der amerikanischen High Schools und inzwischen auch aus Colleges und Universitäten zu verschwinden droht.

Die Veränderung bietet sowohl Herausforderungen als auch Chancen: Die Jüngeren gehen mit weniger Vorbehalten auf Deutschland zu. Sie kommen zudem aus einer Generation, die an kulturelle Vielfalt gewöhnt ist — auch Brandeis ist stolz auf seine ausgeprägte diversity unter den Studierenden. So gibt es z.B. deutlich steigende Zahlen von Studierenden mit asiatischem Hintergrund. Zehn bis fünfzehn Prozent eines Jahrgangs kommen aus anderen Ländern. Die Jüngeren kennen Deutschland aus den Medien als Land des Fortschritts, des Umweltschutzes, als Land von Wissenschaft, Literatur und Musik. Zugleich ist der Generationenwechsel auch ein Verlust: Mit dem herannahenden Ende der Generation der Holocaust-Überlebenden muss die Darstellung ihrer Erinnerungen zunehmend durch historische Dokumente, Filme und Berichte aus zweiter Hand ersetzt werden.

Dies erschwert den direkten Zugang zum Verständnis der Erfahrung von Verfolgung und Exil und erhöht das Risiko der Verharmlosung und des Vergessens. In den nächsten Jahren werden neue Konzepte erforderlich werden, die den verantwortungsvollen Umgang mit der Vergangenheit für die Zukunft sicherstellen.