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1. Vorbemerkung

Die Kulturwissenschaft bzw. Kulturwissenschaften gewinnen an den Universitäten, im Besonderen auch an den Ausbildungsstätten für Übersetzer und Dolmetscher[1] immer mehr an Bedeutung. Sprach man in den 1990er-Jahren noch vom cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften als Beginn einer neuen Ära, so gibt es heute kaum noch ernstzunehmende Ansätze in der Literatur-, Sprach- oder Translationswissenschaft, die nicht in irgendeiner Form den Begriff „Kultur“ thematisieren. Dabei gab es vor dieser Wende sehr wohl einen Diskurs über kulturwissenschaftliche Inhalte, allerdings mit anderer Benennung. Am deutlichsten wird dies, wenn man mit Personen spricht, die sich zu kulturrelevanten Themen geäußert haben, dabei aber beispielsweise nie den Begriff „Interkulturelle Kommunikation“ verwendet haben, der heute omnipräsent ist. In den letzten Jahren ist ein regelrechter Boom an kulturwissenschaftlicher Forschung zu beobachten, nicht zuletzt durch die Einrichtung kulturwissenschaftlicher Studiengänge sowie des gestiegenen Stellenwerts der Kulturwissenschaft in Fächern wie Anglistik, Romanistik, Germanistik und Translationswissenschaft. Umstritten bleibt, ob Kulturwissenschaft als eigenständige Disziplin institutionalisiert werden soll oder ob Kulturwissenschaften interdisziplinär in der Vielfalt kulturwissenschaftlicher Fächer betrieben werden sollten. Faktum ist, dass Kulturwissenschaften im Zeitalter von Globalisierung, Interkulturalität und Massenmedien für Deutung, Orientierung und Selbstverständnis von Gesellschaften von hoher Bedeutung sind.

Die Kulturwissenschaften besitzen als akademisches Fach weder einen klar abgrenzbaren Gegenstand noch eine einheitliche Gestalt, weil sie sich aus ganz verschiedenen Orientierungen heraus entwickelt haben. Das hängt mit den spezifischen historischen und sozio-kulturellen Bedingungen zusammen, aus denen sie hervorgegangen sind. Die deutschsprachigen Kulturwissenschaften z.B. haben eine andere Genealogie als die Cultural Studies: Beide sind Teil jener Kulturen, aus denen sie entstanden sind.

Im deutschen Sprachraum spricht man seit den 1990er-Jahren von der „kulturellen Wende“, den die Sozial- und Geisteswissenschaften vollzogen haben. Die Kulturwissenschaften selbst haben eine Entstehungsgeschichte, die bis an den Anfang des 20. Jh. zurückreicht. Damals begannen einzelne Wissenschaftler wie Walter Benjamin (1955) oder Ernst Cassirer (1961[2]) aus den methodologischen Bahnen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Domänen auszuscheren und neue Fragestellungen, Wahrnehmungsformen und Arbeitsweisen zu entwickeln. Die Vorstöße vorwiegend jüdischer Wissenschaftler konnten sich damals aber nicht gegen die institutionellen Fachstrukturen behaupten und wurden im Gegenteil in den 1930er Jahren aus dem NS-Staat gewaltsam ausgeschlossen. Die Wiederanknüpfung geschah nicht sofort nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern setzte erst allmählich erst allmählich in den 1980er Jahren ein.

Speziell in der Translationstheorie wie auch in der Übersetzer- und Dolmetscherausbildung stand jahrzehntelang ein sprachzentriertes Verständnis von Übersetzen und Dolmetschen im Vordergrund, bei dem „Kultur“ lediglich einen möglichen Hintergrund bildete, der gegebenenfalls für die Lösung konkreter sprachlicher Einzelfragen herangezogen wurde. Neuere Entwicklungen in der Translationswissenschaft – ausgehend von den letzten 15-20 Jahren – führten zu einem kulturzentrierten Verständnis, das Sprache als Teil von Kultur definiert und Translation als kulturellen Transfer begreift. Dem jeweiligen Verständnis entsprechend rangierten auch „Landeskunde“, „Kulturkunde“ etc. im Lehrangebot lange Zeit am Rande und befassten sich in der Regel lediglich mit den historischen und gegenwärtigen Daten und Fakten des Landes, dessen Sprache die angehenden Übersetzer und Dolmetscher studierten, während seit einigen Jahren bewusst und deutlich gemacht wird, dass Kultur in der Translation auch das Gesamtverhalten von Mitgliedern einer Gesellschaft meint, darunter auch das sprachliche.

Dieses vorwissenschaftliche Paradigma wich immer mehr einer einem moderneren Verständnis von Kultur, machte einer Betrachtung der Alltagskultur Platz und führte in eine interaktionelle „Leutekunde“, wie sie von Göhring (2007: 85) propagiert wurde. Der Mensch und die zwischenmenschlichen Kontakte rückten immer stärker in den Mittelpunkt. Damit wurde der anthropologische Kulturbegriff in seiner Grundausrichtung neu definiert, zugleich aber auch ganzheitlicher gefasst. Im wissenschaftshistorischen Kontext findet dieser Ansatz seinen Niederschlag in der Skopostheorie von Vermeer und Reiss (1991) und der Theorie des Translatorischen Handelns von Holz-Mänttäri (1984).

Im Folgenden seien zwei Aspekte näher behandelt: zum einen die Funktion von „Kultur“, zum anderen Kulturtheorie als Zeichentheorie.

2. Die Funktion von „Kultur“

Der Diskurs darüber, welche Funktion Kultur hat, ist ohne Einbeziehung der Kultursoziologie nicht denkbar. Sozialtheoretische Definitionen von „Kultur“ werden von sozialanthropologischen, ethnologischen und soziologischen Ansätzen unterschiedlicher Ausrichtung vertreten. Sie zeichnen sich durch ein funktionales Verständnis von „Kultur“ aus. Sie unterscheiden sich damit von zeichentheoretisch fundierten Kulturkonzepten, deren Ausgangspunkt statisch angelegt ist und die sich als Ergebnis und Voraussetzungen sozialer Praxis auf verschiedenen Abstraktionsniveaus von Artefakten darstellen. Obwohl beide Ansätze im Lauf ihrer Entwicklung immer wieder aufeinander Bezug nehmen und als komplementär anzusehen sind, setzt sich die Einsicht, dass sie einander voraussetzen, erst langsam durch. Sozialtheorien von Kultur zielen darauf ab, die Beziehungen von „Kultur“ und „Gesellschaft“ so zu beschreiben, dass die funktionalen Aspekte beider Bereiche sichtbar werden und sie sowohl aufeinander bezogen als auch voneinander unterschieden werden können.

Als Initiator einer Kultursoziologie, die nicht nur kulturphilosophisch orientiert ist, gilt für den deutschen Raum Max Weber (1968: 146-150), der in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus kulturelle und gesellschaftliche Faktoren aufeinander bezieht. Mannheim (1970: 91-100) konkretisiert die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Wissens- oder Denkinhalten methodologisch. Auf diese Weise wird Kultursoziologie zu Wissenssoziologie generalisiert und der Bezug zwischen der semiotischen und der sozialen Komponente nicht mehr nur zwischen Kultur und Gesellschaft, sondern auch innerhalb kultureller und nicht-kultureller Bereiche von Gesellschaften herausgearbeitet.

Nicht zuletzt ein Verdienst der Mitte der 1950er-Jahre sich entwickelnden Cultural Studies war es, der bürgerlichen Hochkultur mit ihrem verbindlichen Kanon an literarischen Texten und Bildender Kunst das „Kulturmonopol“ streitig zu machen und nach und nach den Gegenstandsbereich kulturwissenschaftlicher Einzeldisziplinen um den Bereich der Alltags-, Populär- und Volkskultur zu erweitern. Die an Positionen marxistischer Sozialtheorie anschließende und auf Richard Hoggart und Raymond Williams zurückgehende Schule der Cultural Studies zeichnete sich durch ein nicht-elitäres Verständnis von Kultur als Lebensweise aus, das z.B. Arbeiter- und Jugend-Subkulturen einbezieht (vgl. Lange 1984). Die Tendenz der Cultural Studies, Kultur als primär sozial determiniert zu erfassen, erweist sich als Antipode der einseitig kulturalistisch geprägten, deutschen kulturwissenschaftlichen Tradition, die Gesellschaft als primär kulturell determiniert begreift (vgl. Musner 2001: 269-270). Beide Positionen können nur im Rahmen einer sozial- und zeichentheoretisch konzipierten Kulturtheorie überwunden werden, die den stark erweiterten Objektbereich eines soziologischen wie auch anthropologischen und ethnologischen Kulturbegriffs zu integrieren vermag.

Der anthropologische und ethnologische Funktionalismus lässt sich auf zweierlei Art interpretieren: a) als Reduzierung der Kultur einer Gesellschaft auf wenige konstante, menschliche Grundbedürfnisse wie u.a. Ernährung und Fortpflanzung; er vermag so die Evolution des kulturellen Funktionsbereichs zwar erklären, nicht aber die historisch spezifischen Unterschiede der funktional äquivalenten Komponenten innerhalb dieses Funktionsbereichs; b) als Einheits- und Ganzheitsbegriff von Kulturen, der oben genannte Grundbedürfnisse ebenso integriert wie Mentalitäten, Kunst- und Lebensformen.

2.1. Funktionalistische Handlungs- und Systemtheorie

In der struktur-funktionalistischen Handlungs- und Systemtheorie des amerikanischen Soziologen Parsons und Platt (1990) werden vier Ebenen angeführt, die soziale Systeme gelöst haben müssen, wollen sie sich dauerhaft funktionsfähig erhalten:

  • die funktionalen Erfordernisse der System-Umwelt-Adaptation;

  • die Zieldefinition und Zielerreichung;

  • die Integration;

  • die Bildung und Erhaltung kultureller Deutungs- und Wertmuster.

Die Ebenen sind als Klassen von funktional äquivalenten, aber historisch je unterschiedlich ausgeprägten Elementen zu verstehen. Moderne Gesellschaften differenzieren dabei die Subsysteme wie Wirtschaft, Politik etc. und stabilisieren deren Austauschbeziehungen langfristig (Schluchter 1980: 106-120). Auf der Mikroebene der vier Handlungssubsysteme wiederholt sich die Schnittstelle von Kultur und ihren gesellschaftlichen Umwelten in einer Koppelung von Sozialsystem und Zeichensystem bzw. von sozialer Praxis und Symbolstruktur. In der 1990 erschienen Studie von Parsons und Platt wird dies wie folgt zusammengefasst:

Wenn aber Verhalten seine Ausrichtung und Bedeutung durch Symbole erhält, existiert auch ein kulturelles System. Kultur besteht aus kodifizierten Systemen sinntragender Symbole und aus jenen Aspekten von Handeln, die sich […] auf Fragen der Sinnhaftigkeit dieser Symbole beziehen.

Parsons und Platt 1990: 21

Einen fächerübergreifenden Theorievergleich unternimmt Fleischer in seinem Werk Kulturtheorie. Systemtheoretische und evolutionäre Grundlagen (Fleischer 2001). Er verbindet darin u.a. biologische, sozialsystem- und diskurstheoretische Aspekte und spricht von einer Kultur als „offenes System“ (Fleischer 2001: 241-242). Die zeichentheoretische Dimension wird erfasst mit den Kategorien Weltbild, Metapher, Stereotyp und Kollektivsymbolik. In seiner „kulturwissenschaftlichen Diskursanalyse“ greift er zurück auf Beschreibungsinventare der antiken Rhetorik (Fleischer 2001: 443-449).

Die wissenssoziologische Generalisierung von „Kultur“ erreicht ihren Höhepunkt in der Soziologie der semantischen Differenzen, dargestellt in der auf Parsons aufbauenden, konstruktivistischen Systemtheorie von Luhmann. In Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie (1984) definiert er Sozialsysteme als sich reproduzierende Kommunikationen, die sich verschiedenen System-Umwelt-Kategorien zuordnen und sich so als religiöse, politische, rechtliche, wirtschaftliche etc. Kommunikationen zu erkennen geben. Luhmanns Werke zu gesellschaftlichen Subsystemen (Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1994; Die Religion der Gesellschaft, 2000) vervollständigen seinen theoretischen Ansatz. Vor diesem Hintergrund versucht Luhmann auch den Kulturbegriff neu zu fassen, so z.B. Kultur als „Gedächtnis sozialer Systeme“ (1995: 47).

Luhmanns Theorie der Sozialsysteme mangelt es trotz kritischer Rezeption durch die konstruktivistische Medien- und Kommunikationswissenschaft[3] an kulturwissenschaftlicher Anwendung. Sprache und Verbreitungsmedien wie Schrift und Buch sichern zwar das Verstehen und die Reichweite von Kommunikation, ohne aber den deren Erfolg unter den Bedingungen der Massenmedien garantieren zu können.

3. Kulturtheorie als Zeichentheorie

Zeichentheoretische Denkmuster wie die des Begründers der modernen Linguistik und des Strukturalismus, Ferdinand de Saussure (1973), prägen seit ihrem Entstehen die Kulturanthropologie und deren Konzepte im Rahmen moderner Kulturtheorien. In der anglo-amerikanischen Ethnologie spricht man oft von patterns und der pattern theory of culture (vgl. Baumhauer 1982: 8-10; Fleischer 2001: 24-40). Der Schwerpunkt einer pattern theory of culture liegt dabei auf erworbenen Klassifikations- und Bewertungsstandards, die nicht nur Ergebnisse von Verhalten und Handeln bilden und sich als Werte in Ideen und Artefakten verkörpern, sondern ihrerseits die selektive Wahrnehmung von Realität steuern, Verhalten konditionieren und als Orientierungsmuster soziales Handeln kollektiv und individuell normieren. Kultur institutionalisiert somit Standardisierungen (Hansen 1995: 30-36) und speichert die kognitiven Schemata und Konzepte, über die Menschen mental verfügen, um ihre „Erfahrungen zu organisieren und zu interpretieren“ (Milton Singer, zit. nach Baumhauer 1982: 13).

Diese Muster können sich als stabil und konstant oder als instabil und wandlungsfähig erweisen. Kroeber (1958: 582-585) unterscheidet dabei dauerhafte basic oder systemic patterns und generative, ihrerseits musterbildende patterns of patterns. Die relative Eigengesetzlichkeit von Kultur betont auch schon Leslie A. White in The Science of Culture. A Study of Man and Civilization (1949). Unter Verweis auf Cassirer und Saussure spricht er sich für eine semiotische Kulturologie aus, welche Dinge und Ereignisse, die auf Symbolen beruhen, dann als Kultur bezeichnet, wenn sie eher in Bezug auf ihre Verbindung miteinander als in ihrem Verhältnis zum Menschen, also sprachanalog eher als langue denn als parole interpretiert werden. Seit den 1950er Jahren wendet sich darüber hinaus die Ethnoscience von Ward H. Goodenough[4] noch stärker der Linguistik zu und erfasst nicht-sprachliche Kulturphänomene als sprachanaloge Zeichensysteme. Damit spannt sich der Bogen hin zur Kultursemiotik, wie sie seit Cassirer und in den zum Teil auf seiner Lehre basierenden Kulturtheorien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den Anfängen des 21. Jahrhunderts zu finden ist.

Generell lässt sich über Kulturen als Zeichensysteme und damit Teil der Kulturwissenschaften sagen, dass sich die Untersuchungen meist auf bestimmte Medien wie literarische Werke, Bilder, Skulpturen oder Musikstücke konzentrierten. Die einzigen Wissenschaften, deren Interesse bereits vor der Semiotik darauf ausgerichtet war, Kulturen als Ganze zu ihrem Gegenstand zu machen, sind die Anthropologie und die Archäologie. Im Laufe des 20. Jahrhunderts stellte sich zwischen diesen beiden Wissenschaften ein Einvernehmen über die zentralen Gegenstandsbereiche her, die im Rahmen des Studiums einer Kultur zu untersuchen sind. Entsprechend diesen Bereichen lässt sich die Anthropologie in drei Teildisziplinen gliedern:

  • die Sozialanthropologie: die in jeder Gesellschaft bestehenden Institutionen und die Rituale, die in ihnen vollzogen werden;

  • die Materialanthropologie, d.h. die materielle Kultur einer Gesellschaft, ihre Zivilisation[5]; sie besteht aus den Artefakten und den Fertigkeiten ihrer Herstellung und Verwendung;

  • die Kulturanthropologie, d.h. die mentale Kultur einer Gesellschaft, die sich in ihrer Zivilisation manifestiert[6].

Für die Kultursemiotik steht folgende Frage im Mittelpunkt: Welche Beziehung besteht zwischen Gesellschaft, Zivilisation und Mentalität auf der einen Seite und Zeichensystem auf der anderen? Für die Translationstheorie stellt sich die Frage, wie sich Mentalität in Texten offenbart und welche Konsequenzen sich daraus in der inter- und transkulturellen Kommunikation ergeben.

3.1. Kultursemiotik

Semiotik als Wissenschaft von den Zeichen beschäftigt sich sowohl mit der Struktur als auch mit dem Prozess, denen Zeichen unterliegen. Zeichen verweisen auf etwas und setzen voraus, dass es jemanden gibt, der sie versteht. Als solche sind sie auch bis zu einem gewissen Grad interpretatorisch offen. Die Prozesse, in denen Zeichen und Interpreten auftreten, werden Zeichenprozesse genannt, ihr Funktionieren in einem Zeichensystem erfordert Interpreten, welche die in Zeichen enthaltenen Botschaften sowie die für die Interpretation relevanten Umstände erfassen. In einem Satz ausgedrückt könnte man sagen: Die Semiotik untersucht Zeichen im Hinblick auf ihr Funktionieren in Zeichenprozessen im Rahmen von Zeichensystemen.

Von „Kultursemiotik“ spricht man, seit Ernst Cassirer den Versuch unternahm, bestimmte Arten von Zeichen als symbolische Formen zu beschreiben. Der Kultursemiotik kommen nach Cassirer zwei Aufgaben zu:

  • sie untersucht die Zeichensysteme einer Kultur im Hinblick darauf, was diese zur Kultur beitragen;

  • sie untersucht die Kulturen als Zeichensysteme im Hinblick auf die Vor- und Nachteile, die die Zugehörigkeit zu einer Kultur einem Individuum bietet.

Aus diesen Überlegungen ergeben sich u.a. folgende Fragen:

  • Wie unterscheiden sich die Interpreten kultureller Zeichen von denen natürlicher Zeichen?

  • Wodurch ergeben sich Identität und Grenzen einer Kultur?

  • Wie kommt Kulturwandel zustande?

Welche Zeichenprozesse sind nun als kulturell und welche als nicht-kulturell anzusehen? Wesentlich dafür ist die Frage, ob an ihnen Codes beteiligt sind, und wenn ja, welcher Art diese Codes sind. Ein Code besteht aus einer Menge von Signifikanten, einer Menge von Signifikaten und bestimmten Regeln, die diese einander zuordnen. Ein Code ist einem Individuum entweder angeboren, also genetischer Natur, oder er wird von ihm im Umgang mit der Welt erlernt, wie viele Verhaltenscodes[7].

Die Kultursemiotik liefert die theoretischen Grundlagen für die Beantwortung all dieser Fragen und schafft damit die Voraussetzungen für die empirische Erfassung und vergleichende Beschreibung der Kulturen der Welt. Die Beschreibung der Kulturen und die sich daraus ergebende vergleichende Kulturanalyse liefert wiederum die Basis für translationstheoretische Überlegungen und ein Hinterfragen von Methodik und Funktion Translationsprozessen. Ein wichtiger Faktor bei dieser Analyse ist das Medium: Medien stellen als „Mittler“ einen Zugang her, wo wir sonst keinen unmittelbaren Zugang haben. Sie sind produktive Instrumente der Weltgestaltung, Konstrukteure der Wirklichkeit[8].

3.2. Medium

Individuen, die bei der Interpretation von Zeichen dieselben konventionellen Codes verwenden, können grosso modo als Mitglieder ein und derselben Kultur angesehen werden. Die Benutzung desselben konventionellen Codes in verschiedenen Zeichenprozessen schafft auch bei stark wechselnden Botschaften Konstanz bei Interaktionen der Mitglieder einer Kultur. Im Folgenden seien der soziologische, der funktionale und der codebezogene Medienbegriff etwas näher beleuchtet. Sie alle sind auch von Bedeutung für die Translation.

Der soziologische Medienbegriff kategorisiert Zeichenprozesse nach den sozialen Institutionen, visuelle Zeichenprozesse werden u.a. „organisiert“ durch soziale Medien wie Galerien, Museen, Buchverlage und Buchhandlungen mit dem Vertrieb von Druckerzeugnissen; auditive Zeichenprozesse z.B. durch Museumsführer. Die meisten dieser sozialen Medien lassen sich jedoch nicht auf die Bereitstellung eines Kommunikationsmittels reduzieren; man denke an Theater oder Websites. Das soziologische Medium steuert wiederum die Herangehensweise und Strategie einer Translation und den Translationsprozess.

Der funktionale Medienbegriff erfasst Zeichenprozesse nach dem Zweck der Botschaften, die durch sie übermittelt werden. Generell handelt es sich um das, was in der Literatur- oder Musikwissenschaft, aber auch in der Textlinguistik als Gattung, Genre oder Textsorte bekannt ist. Der Kommunikationszweck verleiht den Botschaften, unabhängig davon, durch welche Medien sie laufen, gleichartige Strukturen. So unterscheidet man nicht nur in der Zeitung, sondern auch im Hörfunk oder Fernsehen zwischen Nachricht, Kommentar, Werbung etc. Man kann allgemein fragen, welchen Beschränkungen Botschaften unterworfen sind, wenn sie im Rahmen einer Nachricht oder eines Kommentars bekannt gemacht werden. Mit dem kulturellen Hintergrundwissen dieser Beschränkungen stellt sich auch die Frage, wie solche Botschaften interlingual und interkulturell zu bewerten sind, welche Inhalte bei einem Translat beizubehalten oder zu verändern und an die Zielkultur anzupassen sind. Der Begriff „Funktion“ erhält hier noch eine andere Bedeutung: Es geht darum, die Empfänger der Botschaft im Fokus zu haben und den Übersetzungsauftrag, sofern sich dieser explizit ergibt, zu befolgen.

Der codebezogene Medienbegriff charakterisiert die Zeichensysteme nach den Sorten von Regeln, mit Hilfe derer ihre Benutzer bei der Rezeption von Zeichen Botschaften zuordnen. Codebezogene Einteilungen lassen sich z.B. bei internationalen Verlagen im Sinne der Einteilung in deutsche, französische oder englische Abteilungen feststellen. Codebezogen wäre in der Musik die Einteilung in tonale oder atonale Musik, in der Translation die Einteilung in dokumentarische oder kommunikative Übersetzung[9].

Die Beispiele zeigen, dass es sinnvoll ist, bei der Beschreibung eines Zeichenprozesses eine große Anzahl von Medienbegriffen mit einzubeziehen. Ein Medium in diesem Sinn ist ein Zeichensystem, dessen Komponenten für eine gewisse Zeit eine gleich bleibende Konstellation von Eigenschaften aufweisen. Kulturtheoretisch interessant ist auch der hohe Spezialisierungsgrad. Aus diesen Gegebenheiten resultiert auch die Dynamik der Medien im Rahmen der Kulturgeschichte.

3.3. Kultur als System von Texten

Die These, dass Kultur ein System von Texten ist, wird von vielen Kultursemiotikern wie Lévi-Strauss (1958) oder Barthes (1964) vertreten. Nicht völlig geklärt ist dabei, worin dabei der Systemcharakter besteht. Vielfach wird darunter eine Menge von Texten verstanden, die Mitglieder einer Kultur im Hinblick auf ihre Identität für wichtig halten. Die Kriterien, nach denen Mitglieder einer Kultur die für sie identitätsbestimmenden Texte auswählen, wechseln von Kultur zu Kultur. Erschwert wird das Ganze auch noch dadurch, dass Kulturen jeweils ihre eigenen Textbegriffe entwickeln. Im Vordergrund steht natürlich das, was gemeinhin als Kanon von wertvollen Texten in einer Kultur gilt, also z.B. Werke der Literatur, Kunst. Von Interesse sind aber auch „kurzlebige“ Texte gemeinsprachlicher oder fachsprachlicher Natur wie Briefe, E-Mails, Verträge, Rechnungen etc. Zu beachten ist, dass Texte einerseits wirklichkeitskonstitutiv sein können, andererseits aber auch für die Mitglieder der betreffenden Kultur unverständlich werden können, wenn die Codes einem starken Wandel unterworfen sind und daher einer neuen Auslegung oder Übersetzung bedürfen. Dies gilt für Werke der Literatur ebenso wie für Rechtstexte (Gesetze). Die Untersuchung von Texten ermöglicht den Zugang zum Selbstverständnis einer Kultur. Sie ermöglicht Rückschlüsse auf die soziale und mentale Kultur. Sie trägt aber auch dazu bei, die zur Übersetzung von Texten nötige Hintergrundinformation zu geben und den hermeneutischen Aspekt des Übersetzens Bedeutung zu verleihen.

4. Interkulturelle Kompetenz

Zentraler Bestandteil der Curricula von Übersetzern und Dolmetschern ist der Aufbau einer interkulturellen und transkulturellen Kompetenz[10]. Das Konzept der interkulturellen Kompetenz knüpft dabei an Themen wie Zeiterleben, Raumerleben, Sprach- und Sprechverhalten, mentale Kultur, Wertesystem, Verhaltensmuster, soziale Kultur und soziale Strukturen etc. an.

In Anlehnung an Lüsebrink (2008: 9) lässt sich interkulturelle Kompetenz wie folgt unterteilen:

  1. Verhaltenskompetenz;

  2. Kommunikationskompetenz, das sind neben den Kenntnissen der fremden Sprache Dimensionen wie Gestik, Mimik und paraverbale Faktoren;

  3. Verstehenskompetenz, d.h. die Fähigkeit, symbolische Zeichen anderer Kulturen zu lesen, verstehen und interpretieren zu können, von der Literatur über Alltagsrituale bis hin zu Kleidungscodes und Medien.

Die in Texten beobachtbaren (inter)kulturellen Unterschiede gehen meist auf kulturelle Muster zurück, die unbewusst das kommunikative Verhalten der Interaktionspartner steuern. Kommunikation als Sonderform intentionaler Interaktion kann zu Critical Incidents, in weiterer Folge aber auch zu einer Sensibilisierung im Aufeinandertreffen mit fremden Kulturen führen. Internationalisierung und Globalisierung, Migration, wachsende Mobilität im Geschäfts- und Berufsleben und nicht zuletzt die modernen Medien tragen dazu bei, dass die Kluft zwischen Kulturen sich verkleinert und trotz aller politischen Strömungen, die einer multikulturellen Gesellschaft nichts abgewinnen können, sich ein verändertes Bewusstsein im Umgang mit fremden Kulturen einstellt. Das Konzept des erwartungskonformen Verhaltens in der betreffenden Gesellschaft (Göhring 2007: 20) reduziert die Gefahr erwartungswidrigen Verhaltens und schärft das Bewusstsein für Fremdwahrnehmung, ohne die eigene kulturelle Identität zu beinträchtigen. Fremdwahrnehmung und Fremdbilder spielen in der interkulturellen Kommunikation eine wichtige Rolle. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Identitätsbildern, persönlichen oder kollektiven Selbstbildern. „Fremd“[11] ist das Wahrnehmungs- oder Interpretationsergebnis der Rezeption anderer Kulturen, methodologisch gesehen das Resultat eines Vergleichs.

In der Kommunikation spielt der übergreifende Situationskontext eine wichtige Rolle. Die Kommunikation erfolgt auf einer Ebene multipler Identitäten, die eine Art „Interkultur“ entstehen lassen; so z.B. wenn Fachleute aus verschiedenen Kulturen, die ein und demselben Fachgebiet angehören, in Kommunikation treten. Ihr Bindeglied ist das gemeinsame Fach, das Fachwissen, nicht unbedingt die gemeinsame Fachkultur. Diese kann Gemeinsamkeiten, zugleich aber auch Unterschiede aufweisen. Kenntnisse über Gemeinsamkeiten und Unterschiede helfen dabei, den Situationskontext zu verstehen und ihn in der Kommunikation zu berücksichtigen.

Bei der Textproduktion im internationalen Rechts- und Wirtschaftsverkehr gehen Verfasser häufig davon aus, dass die Adressaten in einer fremden Kultur an einen Text dieselben Erwartungen stellen würden wie Adressaten aus der eigenen Kultur. Dies lässt sich an zahlreichen Beispielen ablesen. Wird ein Rechtstext nach den Erwartungen der eigenen Kultur in eine Fremdsprache und –kultur übertragen, ist das Ergebnis als inadäquates Übersetzen zu bewerten. Der Adressat mag zwar sprachlich noch das eine oder andere verstehen, er kann den Text jedoch nicht in seinen fachlichen Horizont einordnen. Die pragmatische Komponente, bei Übersetzungen ein unverzichtbares Element, geht dabei vollkommen verloren.

4.1. Sozialisation und Kultur

Im Sozialisationsprozess lernt der Mensch gewisse Verhaltensregeln von der eigenen Kultur und ihren Wertvorstellungen. Anders ausgedrückt: Der Prozess der Einordnung des heranwachsenden Individuums in die Gesellschaft und die damit verbundene Übernahme gesellschaftlich und kulturell bedingter Verhaltensweisen durch das Individuum erfolgt im Rahmen der Sozialisation. In der Soziologie spricht dabei von primärer, sekundärer und tertiärer Sozialisation[12].

In den genannten drei Phasen findet Sozialisation Hand in Hand mit Kulturerwerb statt. In einem Modell von Geert Hofstede (1993: 20-28) werden im Kontext Natur vs. Kultur drei Ebenen der mentalen Programmierung des Menschen unterschieden:

  1. menschliche Natur: ererbt;

  2. Persönlichkeit: erlernt und erlebt;

  3. Kultur: erlernt.

Das heißt, jeder Mensch erbt seine menschliche Natur, während er seine Kultur erst erlernen muss. Das Erlernte und das Erlebte verleiht ihm seine Persönlichkeit. Das Lernen seiner Kultur findet im Rahmen der Sozialisation statt.

Bei der Analyse von Kulturräumen ist vielfach von individualistischen und kollektivistischen Kulturen die Rede, die in ihrer Differenzierung Auswirkungen auf Verhaltensregeln und Wertvorstellungen haben (Hofstede 1991). In individualistischen Kulturen wie Australien, Belgien, Deutschland, Großbritannien stellen Unabhängigkeit, Freiheit, Leistung, Persönlichkeit des einzelnen besondere Werte dar, in kollektivistischen Kulturen wie China, Japan, Korea, Indien haben hingegen die soziale Gruppe, Anpassung, Harmoniestreben, Gleichheit und Solidarität als angemessene Verhaltensweisen oberste Priorität. Diese Grundwerte und Grundorientierungen können in der interkulturellen Kommunikation leicht zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führen, nicht nur auf der mündlichen Ebene, sondern auch auf der schriftlich-textuellen Ebene. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass das individuelle Verhalten auch von der momentanen Situation bestimmt ist und sich Grundwerte in einem Zeitraum von Jahren oder Jahrzehnten auch ändern können. Dies schließt nicht aus, dass sich in der Kommunikation Stereotype herausgebildet haben, deren Beständigkeit jedem Wandel gewachsen ist. Soziokulturelle Ansätze in der Stereotypenforschung gehen davon aus, dass diese historisch betrachtet immer einen wahren Kern haben. Dem stehen kognitive Ansätze entgegen, die auf der Annahme beruhen, dass die Stereotypisierung auf drei grundsätzlichen Prozessen beruht, nämlich auf Kategorisierung, Generalisierung und Akzentuierung. Unter Kategorisierung wird die Sortierung von Dingen oder Personen auf Grund angenommener oder tatsächlicher Ähnlichkeiten angenommen. Generalisierung bezieht sich auf die Annahme, dass Dinge oder Personen innerhalb einer Kategorie bestimmte Gemeinsamkeiten haben und eine soziale Gruppe bestimmte Eigenschaften wie Arroganz oder Freundlichkeit aufweist. Akzentuierung beschreibt die Tatsache, dass Ähnlichkeiten innerhalb einer Gruppe überschätzt und die Ähnlichkeit zwischen Gruppen unterschätzt werden. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass die Homogenität innerhalb unterschiedlicher Kategorien maximiert wird und die Ähnlichkeit zwischen einer Kategorie und der ihr entgegengesetzten Kategorie minimiert wird. Man spricht hier vom Prinzip des Metakontrasts. Eben dieses Prinzip hilft bei der Erklärung vieler Stereotype. Es steht auch im Einklang mit der Überzeugung, dass jeder Mensch nach einer positiven sozialen Identität strebt und einer sozialen Gruppe angehören will, die sich von anderen Gruppen abheben kann. Dieses Motiv ist daher die Erklärung für die Entstehung positiver Autostereotype und negativer Stereotype gegenüber Fremdgruppen.

5. Schlussbemerkung

Kulturwissenschaft und Kulturtheorien sind zu Recht in den letzten Jahren im Bereich der interkulturellen Kommunikation und der Translationswissenschaft in den Fokus genommen worden. Ausgehend von Kulturanthropologie und Kultursemiotik bis hin zu interkultureller Kommunikation in einer weltweit vernetzten und globalisierten Welt ist das Konzept „Kultur“, auch wenn es nicht gleich greifbar und verschieden interpretiert wird, überall präsent. Es prägt – meist unbewusst – unseren Alltag, lässt Kulturphänomene bewusst werden, kulturhistorische Erscheinungen in neuem Licht erscheinen und steuert letztendlich unser Kommunikationsverhalten. Als Grundlage translatorischen Handelns und einer pragmatisch orientierten Translation ist Kultur mit all ihren Facetten sowie die theoretische Reflexion darüber zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Translationswissenschaft sowie der curricularen und postcurricularen Ausbildung geworden. Die Entwicklung ist sicher noch nicht an ihrem Endpunkt angelangt. Multikulturelle Gesellschaften nehmen zu, die Anforderungen an Kulturexperten, im Besonderen an Translatoren werden neue Dimensionen erfahren.