Grenzgänger in der Literatur[Notice]

  • David Simo

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Die Literatur stellt eine Institution dar, in der Grenzen, Grenzziehung, aber auch Grenzüberschreitungen sowohl thematisch, als auch konzeptionell und diskursiv eine wichtige Rolle spielen. Gerade in Europa pendelt ihr Selbstverständnis zwischen Universalismus und Partikularismus, Nationalisierungstendenzen und Transnationalisierungsperspektive. Kafka meinte zwischen der Literatur einer großen und der einer kleinen Nation unterscheiden zu können. Als kleine Nation bezeichnete er eine religiöse oder ethnische Gemeinschaft, die unter einer repressiven Herrschaft lebt. Hier konstituiert sich das kollektive Gedächtnis als eine Widerstandsstrategie und als Mittel der Befreiung. Das Bewusstsein, eine Gruppe zu sein, ist alles andere als selbstverständlich. Das Bewusstsein, eine Gemeinschaft zu bilden, setzt eine diskursive Praxis voraus. Nur dadurch, dass man davon spricht, dass man eine Gemeinschaft bildet und sich entsprechend verhält, nimmt man sich als Gemeinschaft wahr. Die Wirklichkeit der Gemeinschaft muss erst sprachlich konstruiert werden, um eine Wirklichkeit an und für sich zu werden. Und die Literatur spielt dabei eine entscheidende Rolle, so zum Beispiel bei den historischen Fällen, die Kafka behandelt, nämlich dem Fall der tschechischen Minderheit in Prag und der jüdischen Minderheit in Warschau. Hier bildet die Literatur ein gemeinsames Gedächtnis sowie einen gemeinsamen geistigen Raum. Aber nicht nur kleine und bedrohte Nationen rekurrieren auf die Literatur als Ort der Vergewisserung und Konsolidierung des Nationalbewusstseins. Die Geschichte zeigt, wie sehr auch starke Nationen die Literatur als Mittel der Darstellung und als Nachweis ihrer Größe verwenden. Die indische Literaturwissenschaftlerin Viswanathan hat hierzu eine höchst interessante Studie durchgeführt. Darin untersucht sie, wie die Engländer das Studium der englischen Literatur in Indien im 19. Jahrhundert als Herrschaftsmittel einführten, und zwar nicht nur, weil diese ethische Gedanken enthielt, die den kolonisierten einheimischen Völkern moralische Werte und Respekt gegenüber den Gesetzen beibringen sollten, sondern auch, um der geistigen Größe und Überlegenheit Englands Ausdruck zu verleihen. Sie sollte den Einheimischen Respekt und Bewunderung einflößen und sie veranlassen, die Herrschaft Englands als natürlich und notwendig anzuerkennen. Während die Literatur eines Landes im Ausland als Herrschaftsmittel verwendet wird, wird sie im Land selber zu einem Objekt, um das herum Kohäsion und Homogenität hergestellt wird. Für die Nachbarländer wird sie zum Ort der Sichtbarkeit der Alterität der Nationalidentität. Der Literaturbetrieb, vor allem die Literaturkritik, die Literaturgeschichtsschreibung und der Literaturunterricht, partizipieren an der Tradierung des Nationalgeistes. Die Literaturgeschichte zeichnet den Weg nach, den die Gründungsväter der nationalen Literatur gewiesen haben, und zeigt, wie die nachfolgenden Generationen diesen Weg fortzusetzen haben. Im 19. Jahrhundert hatte für Gervinus die Literaturgeschichte, und zwar mehr noch als die Politikgeschichte, die Aufgabe, das sich konstituierende Nationalbewusstsein herauszuarbeiten und daraus die Verpflichtung der Zeitgenossen auf den Prozess der historischen Verwirklichung der Nation abzuleiten. Die Literatur insistiert aber auch gern, vor allem seit der literarischen Moderne, auf ihrer Autonomie. Die Eigenart des Ästhetischen wird gerade in seiner Alterität zu kulturellen Werten und somit zur Nation gesehen. Kafka war einer der Protagonisten der literarischen Moderne. Deshalb reihte sich seine eigene literarische Produktion weder in die große noch in die kleine Literatur ein. Er schrieb nicht im Sinne der jüdischen Literatur, wie sie in Warschau funktionierte und die er als kleine Literatur charakterisierte. Er schrieb auch nicht nach der Tradition Goethes. Der Status des Fremden und Marginalisierten, den er als Jude hatte, und seine gleichzeitige Zugehörigkeit zur deutschen Kultur, die er genau kannte, verliehen ihm eine Freiheit und eine Fähigkeit zur Distanz und zur Verfremdung, die nicht alle hatten. Er konnte umso selbstverständlicher Positionen einnehmen, die andere, nicht-jüdische deutsche Schriftsteller nur mit großer Anstrengung erreichen konnten, weil sie für sie Bruch und Ablehnung der durch ihre Sozialisation verinnerlichten Werte und Denkmuster darstellten. Das Bewusstsein einer existenziellen Entfremdung, der Entwurzelung, der Unmöglichkeit, an einer geteilten Wirklichkeit teilzuhaben, das Gefühl …

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